Isoliertes Vereinigtes Königreich
Großbritanniens weltweite Machtposition hat sich seit der Auflösung des britischen Weltreiches 1997 verringert. Das Vereinigte Königreich entscheidet bald, ob es die Europäische Union verlässt. Egal, wie die Entscheidung ausgehen wird: Die Sonne wird weiterhin am Abend untergehen.
Schon 1975 sprach sich die damalige Vorsitzende der konservativen Regierung und spätere Premierministerin Margaret Thatcher in einer Rede an ihre Parteigenossen für einen Verbleib Großbritanniens (GB) im Vorgänger der Europäischen Union (EU), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), aus. Obwohl sich Thatcher öffentlich stets europakritisch äußerte, bezeichnete sie GB als einen untrennbaren Teil Europas und das britische Volk als in jeglicher Hinsicht europäisch. Europa, so betonte sie in ihrer Rede, sorge für Frieden und Sicherheit. Außerdem gebe die EWG GB die Möglichkeit, das Commonwealth of Nations – den internationalen Verband unter britischer Krone mit aktuell 53 Mitgliedstaaten ehemaliger Kolonien – in Europa zu vertreten.
Das Empire in den Köpfen der Briten
Im Jahr 2015 stehen viele Briten dem Staatenverbund EU kritisch gegenüber. Die von Thatcher genannte Verbindung zu den europäischen Mitgliedstaaten über die Kultur und die geographische Lage scheint für einige Briten von geringer Wichtigkeit zu sein. „Großbritannien hat durch das Empire immer noch eine Ausrichtung in andere Teile der Welt. Die EU-Länder waren in den Köpfen vieler Briten schon immer viel weiter entfernt als zum Beispiel die USA“, sagt Ulrich Storck, Leiter des Londoner Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung.
1997 verlor das Britische Weltreich (British Empire) mit Hongkong seine letzte Kolonie. Trotzdem hängt das Herz vieler Briten an der Vergangenheit, die allzeit präsent ist: Die Überbleibsel des British Empires, das Commonwealth of Nations, und dessen Oberhaupt Queen Elizabeth II., deren Amt nur noch symbolische Funktion hat, genießen hohes Ansehen. So winkt und lächelt die Queen ihrem Volk nicht nur von ihrer Residenz, dem Buckingham Palace, entgegen, sondern auch von Geldscheinen und Souvenirs.
Austritt ohne Alternativen
Durch die Wiederwahl des britischen Premierministers David Cameron könnten schon bald neue Wege bezüglich der Positionierung GBs gegenüber der EU eingeschlagen werden. Sein Wahlversprechen, das Referendum zum Verbleib GBs in der EU zeitnah durchzusetzen, soll spätestens 2017 eingelöst werden.
Dann wird entschieden, ob das Vereinigte Königreich Teil des Staatenverbundes bleibt oder ob es sich davon abkoppelt. Derzeit ist die Mehrheit der Briten gegen einen EU-Austritt. Die Konsequenzen eines Austritts für die einst einflussreichste Insel der Welt sind unklar.
Ausgearbeitete Alternativen werden von den EU-skeptischen Parteien nicht angeboten. Die Behauptungen seitens der rechtspopulistischen UKIP und auch teilweise von der Labour-Partei und den Tories sind vor allem anti-europäisch. Sie nehmen bisweilen skurrile Züge an: Laut dem UKIP-Parteivorsitzenden Nigel Farage seien die Verkehrsstaus auf der Autobahn M40, die London und Birmingham verbindet, auf die vielen EU-Immigranten zurückzuführen.
Fehlen von Fremdsprachen
Obwohl Großbritannien durch das British Empire und als ehemals größtes Kolonialreich eine internationale Ausrichtung hat, hat es bis heute versäumt, die Wichtigkeit von Fremdsprachen in Schulen und an Universitäten zu vermitteln. Fremdsprachen sind in Großbritannien kein Pflichtfach mehr. Laut einer Pressemitteilung der Europäischen Kommission lernen hingegen 90 Prozent aller europäischen Schüler Englisch als Fremdsprache.
Das Beherrschen einer Fremdsprache würde den Briten die Möglichkeit geben, in anderen EU-Ländern zu arbeiten und zu leben. Bislang gibt es auch aufgrund des Fremdsprachenmangels nur wenig Arbeitsmigration in andere Länder. Das Erlernen anderer Sprachen in der Schule könnte außerdem Offenheit und Nähe zu anderen (EU-)Ländern und Kulturen schaffen.
Appell an „Herz und Verstand“
Das negative Image der EU kommt laut dem FES-Experten Ulrich Storck auch daher, „dass in den letzten Jahrzenten vornehmlich die EU-Gegner den öffentlichen Debattenraum besetzt haben“. In Tageszeitungen wie The Sun oder Daily Mirror wird die EU oft als etwas Schlechtes portraitiert, Migranten u.a. aus Spanien werden als Sozialschmarotzer gebrandmarkt und Brüssel wird zum Sündenbock für alle Probleme gemacht.
David Cameron muss versuchen, sowohl EU-Gegner als auch EU-Befürworter zufriedenzustimmen. Er selbst spricht sich für den Verbleib Großbritanniens in der EU aus. Cameron appelliert an „heart and mind“ (Herz und Verstand) der Bevölkerung für einen Verbleib in der EU. Doch dort, in heart und mind, ist der Themenkomplex EU oft nicht präsent. In Brüssel will Cameron neue Bedingungen für GB in der EU aushandeln. Doch die Spielräume sind klein – vor allen Dingen bei Migrationsfragen.
Ein Referendum ist immer gefährlich
Für das Referendum ist zu erwarten, dass sich Gefühle mit dem eigentlichen Thema vermischen und sogar ausschlaggebend sind. Laut Storck könne es sein, dass die Wähler im Referendum „Dampf über die aktuelle Regierung ablassen und für einen Austritt stimmen“.
Unmittelbare Vorteile für GB durch einen Austritt sind nicht zu erwarten. Unternehmen und Großbanken wie die HSCB haben angekündigt, die Insel im Fall eines Austritts verlassen zu wollen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass das britische Bruttoinlandsprodukt bei einem Austritt 2018 binnen zwölf Jahren um 14 Prozent sinken würde. Trotzdem: Im Gegensatz zu anderen europakritischen EU-Ländern traut sich das Königreich einen Austritt zu. Schließlich haben die Briten es schon einmal ganz alleine in eine weltweite Machtposition geschafft
Die nationale Nostalgie würde nach dem Verlassen der EU jedoch schnell verblassen. Wie Thatcher schon 1975 sagte, kann GB eine führende Rolle in Europa spielen. Aber Europa wird vor dem Hintergrund der Globalisierung auch ohne GB stets machtvoller sein als ein isoliertes Königreich. Das „Reich, in dem die Sonne nie untergeht“ muss sich langsam der Realität des 21. Jahrhunderts stellen. Denn auch in Großbritannien geht, wie überall, die Sonne am Abend unter.
Sehr gründlicher und informativer, gut zusammengefasster Artikel.
Hoffentlich überlagert die neie Flüchtlingsdebatte bei der Entscheidung zum Referendum nicht alle anderen Probleme.