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Justitias Rivale

Von Barbara Engels / 13. März 2019
picture alliance / Zoonar | Robert Kneschke

Das Monopol des weltlichen Rechts ist in Deutschland in Gefahr. Vor allem bei Auseinandersetzungen ethnischer Clans greift immer häufiger eine Paralleljustiz ein, die der deutschen Rechtsprechung zuvorkommen will.

Es ist ein sonniger Sonntagnachmittag, als Nidal R., 36 Jahre alt, vor den Augen seiner Familie auf dem Tempelhofer Feld in Berlin erschossen wird. Doch Nidal R., das Opfer, ist zugleich auch stadtbekannter Intensivtäter aus der Szene arabischer Clans, vielfach verurteilt wegen gemeinschaftlichen Raubs, gefährlicher Körperverletzung und Drogendelikten.

An diesem Tag im September 2018 richten ihn mutmaßlich andere Milieugrößen, ebenfalls Kriminelle. Für Nidals Brüder spielt das keine Rolle. Sie veröffentlichen kurz darauf als eine Art privater Fahndungsaufruf Fotos der angeblichen Täter auf Facebook. Ein klarer Fall von privater Paralleljustiz, wie er immer häufiger in Deutschland vorkommt.

Friedensrichter sprechen Urteile

Arabische Clans regeln Streitigkeiten gern unter sich, fernab von der deutschen Rechtsprechung, von Grundgesetz, Strafgesetzbuch und deutscher Gerichtsbarkeit. Der Grundsatz, dass bei einem Konflikt die gegenerischen Parteien irgendwann Anwälte einschalten, gilt in dieser Parallelwelt oft nicht. Genauso wenig wie das Urteil eines ordentlichen Gerichts, das auf den bestehenden Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland aufbaut.

Dass eine Unterwelt mitten (aber nicht nur) in Berlin existiert, die weitgehend autark und unbehelligt nach ihren eigenen Regeln lebt, ist auch in der Gangster-Saga „4 Blocks“ zu sehen. Sie zeigt, wie in diesen Clanstrukturen eigenständige Instanzen dafür sorgen, dass Auseinandersetzungen nicht so blutig enden wie im Fall Nidal R. So verfügt ein sogenannter Friedensrichter in der zweiten Staffel von „4 Blocks“, dass die Rivalen sich durch eine interfamiliäre Heirat aneinanderbinden und den Konflikt damit beilegen.

Soziologen schätzen, dass mittlerweile um die 50 Friedensrichter, allesamt ältere, autoritäre Männer, in Deutschland längst abseitige Rechtsurteile sprechen. In der rbb-Reportage „Die Clans – Arabische Großfamilien in Deutschland“ behauptet der Essener Friedensrichter Jamal El-Zein, selbst bei der Aufklärung von schwerwiegenden Verbrechen habe er größere Aussicht auf eine Befriedung als staatliche Ermittler. „Weil wir die Angelegenheiten regeln können, die der Staat nicht lösen kann,“ so El-Zein. „Wenn ein, zwei Leichen auf den Boden fallen, klären wir das innerhalb von zwei Wochen. Zwei, drei, vier Wochen und wir lösen das. Wir sind doch eine Sippe, wir sind als Großfamilien unter uns.“

Oft fließt Schmerzensgeld zwischen der Familie des Täters und der des Opfers – Hauptsache, der Konflikt wird nicht der klassischen Gerichtsbarkeit überlassen. Laut einer Studie des Nürnberger Islamwissenschaftlers und Juristen Mathias Rohe führt eine Art „Schamkultur“ dazu, dass diese patriarchalisch geprägten Gemeinschaften ihr Konzept notwendiger Ehrerbietung nicht mit dem deutschen Rechtsstaat in Einklang bringen können und wollen.

Beeinflussung der eigentlichen Gerichtsprozesse

Ist die Einmischung staatlicher Institutionen jedoch nicht zu verhindern, ziehen sich Friedensrichter keineswegs einfach zurück. Bisweilen bewegen sie Betroffene in laufenden Gerichtsprozessen dazu, Aussagen zurückzunehmen und Anzeigen fallen zu lassen. Vor Gericht beginnt dann ein sonderbares Schauspiel: Zeugen können sich plötzlich nicht mehr erinnern oder verstricken sich in hanebüchenen Schilderungen. In der Folge dieser Praxis vermengen sich beide Rechtssphären beinahe. Im vergangenen Oktober forderte der Verteidiger eines mutmaßlichen Gruppenvergewaltigers in Essen allen Ernstes, dass sich die Paralleljustiz strafmildernd auf das Urteil des Landgerichts auswirken solle. Der Angeklagte war immerhin zuvor durch einen Sinti-Richter aus der weltweiten Sinti-Gemeinde ausgeschlossen worden, hieß es.

Zwar sieht auch die deutsche Rechtsprechung die Möglichkeit zu Mediationen, Güteverhandlungen oder außergerichtlichen Vergleichen vor, die bei kleineren Streitigkeiten Anwendung finden. Bei schweren Straftaten stehen diese jedoch außer Frage.

Vielfalt alternativer Rechtssysteme

Auch wenn oft arabische Clans im Zentrum der Paralleljustiz-Debatte stehen, sind diese nur für einen Teil der in Deutschland ausgeübten alternativen Rechtssysteme verantwortlich. Allein das Projekt „Konfliktregulierung in Deutschlands pluraler Gesellschaft“ des Max-Planck-Instituts für Ethnologische Forschung untersucht die Strukturen der Konfliktregulierung in fünf verschiedenen, ethnisch kulturell und religiös definierten Gemeinschaften in Deutschland: russischsprachige, jesidische, kurdische und afghanische Gruppen sowie Angehörige der Mhallamiya, einer Gruppierung aus dem Libanon.

Bisheriges Fazit: Paralleljustiz zu erkennen und zu bekämpfen ist sehr schwierig, weil alle Beteiligten sie mit hoher Diskretion behandeln. So kommt es, dass längst nicht nur in ausländisch geprägten Gesellschaftsteilen unterschiedliche Rechtsmaßstäbe in Konfliktsituationen angelegt werden. Fälle sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland beispielsweise sind in der Vergangenheit oft hinter verschlossenen Türen, abseits jeglicher Öffentlichkeit geregelt worden. Matthias Katsch, Sprecher der Missbrauchsopfer-Initiative Eckiger Tisch, forderte unlängst bei einer Talkshow deshalb ein für alle Mal: „Die Paralleljustiz muss ein Ende haben.“

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