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„Menschlichkeit steht an erster Stelle“

Von Pauline Reinhardt / 28. September 2023
FES Journalist_innenAkademie / Elias El Ghorchi

Trauma und Journalismus: eines von vielen Themen, die beim b° future festival in Bonn diskutiert wurden. Im Gespräch erklärt die langjährige Journalistin Irene Caselli, warum Krisenjournalismus im Zusammenhang mit Kindern mehr Sensibilität braucht.

Die italienische Journalistin Irene Caselli hielt direkt nach der Eröffnung des Festivals einen Vortrag mit dem Titel „Mental Health: How to stay sane in the news business“ (dt.: Mentale Gesundheit: Wie man in der Journalismusbranche bei Verstand bleibt). Zudem leitete die Expertin für frühe Kindheit, reproduktive Rechte und Pflegekräfte einen gut besuchten Workshop über traumasensible Interviews.

sagwas: Was machst Du beruflich, Irene?

Irene Caselli: Ich habe meinen eigenen Newsletter namens „The First 1,000 Days”, der sich auf die frühe Kindheit konzentriert. Ich arbeite als freiberufliche Journalistin und bin außerdem als leitende Beraterin für die Early Childhood Reporting Initiative des Dart Center for Journalism & Trauma (dt.: Initiative für frühkindliche Berichterstattung des Dart-Zentrums für Journalismus & Trauma) tätig.

Wie bist Du auf das Thema Trauma und Journalismus aufmerksam geworden?

Trauma ist im Grunde der Stoff, mit dem wir als Journalist*innen arbeiten. Ich habe viele Jahre lang als Auslandskorrespondentin in Lateinamerika gelebt, wo ich von Überschwemmungen, Erdbeben und politischer Gewalt berichtet habe. Viele meiner Gesprächspartner*innen waren seelisch verletzt. Als ich vom Dart Center erfuhr, wurde mir klar, dass mich das vermutlich beeinflusst hat.

Irene Caselli fordert mehr Sensibilität in der Berichterstattung, um Re-Traumatisierung zu verhindern. (Foto: Pauline Reinhardt)

Das Dart Center for Journalism & Trauma (dt.: Dart-Zentrum für Journalismus & Trauma) ist ein Thinktank, konkret ein Projekt der Columbia University Graduate School of Journalism (dt.: Graduiertenschule für Journalismus der Columbia-Universität) in New York, das sich der Berichterstattung über traumatische Ereignisse widmet.

Mich hat von Anfang an besonders das Programm zur Berichterstattung über die frühe Kindheit interessiert. Ich habe schon immer über Frauen und Kinder geschrieben, weil sie am meisten von sozialen Problemen betroffen sind. Aber es war schwer, solche Geschichten an Redakteur*innen zu verkaufen, die mir häufig sagten: „Das ist eine seichte Geschichte. Warum interessieren wir uns für dieses Kind, das in dieser Mülldeponie aufgewachsen ist, und wie es ihm jetzt geht?“

Durch das Dart Center wurde mir klar, dass hinter der Berichterstattung über Kinder harte Fakten stehen: Die Erfahrungen, die wir in den ersten tausend Tagen unseres Lebens machen, sind die prägendsten.

Dein Newsletter heißt „The First 1.000 Days”. Darin berichtest Du teilweise von Deinen eigenen Erfahrungen als Mutter und Journalistin über das Thema frühe Kindheit. Wie arbeitest Du mit Kindern in diesem Alter?

Meistens arbeiten wir mit den Betreuer*innen und anderen Menschen im Umfeld der Kinder zusammen, um zu verstehen, wie es den Kindern geht und was ihre Geschichte ist.

Außerdem beobachten wir viel. Kinder drücken sich im Spiel aus. Auf diese Weise lernen sie, erleben die Welt und verarbeiten viele ihrer Erfahrungen. Kinder könnten spielen, dass sie sich gegenseitig erschießen – so setzen sie sich mit Gewalt auseinander.

Ich bin keine Psychologin, viele von uns Journalist*innen sind das nicht. Wir sind vielleicht nicht in der Lage zu verstehen, was unsere Beobachtungen bedeuten. Dennoch können sie uns helfen, eine Geschichte über von Armut und Konflikten betroffene Kinder zu schreiben. Denn durch diesen Kontext geht es in der Geschichte um sie und nicht um ihre Betreuer*innen.

Dein Workshop handelte von traumasensiblen Interviews, aber ich habe daraus auch mitgenommen, dass ich nicht immer Interviews führen sollte. Warum nicht?

Manchmal müssen wir unsere besten Feind*innen sein, in dem Sinne, dass wir gegen unsere eigene Arbeit Einspruch einlegen – was ein großer Luxus ist. Denn meistens müssen wir unsere Geschichten einfach verkaufen. Trotzdem ist es wichtig, dass wir uns Gedanken machen: Sollten wir diese Interviews führen, welche Art von Fragen sollten wir stellen?

Wir sollten sie nur dann führen, wenn wir die Zeit haben, eine Beziehung zu der interviewten Person aufzubauen, wenn wir dreimal zu dieser Person zurückkehren und beim dritten Mal die schwierigsten Fragen stellen können. Ich würde sagen: Lasst uns unsere Einstellung zu dieser Art von Geschichten ändern und aufhören, schmerzhafte Interviews mit weinenden Menschen zu führen!

Was tust Du, wenn Du während eines Gesprächs den Eindruck hast, dass es die Person retraumatisiert?

Ich denke darüber nach, wie ich behandelt werden möchte, wenn ich von einem sehr schlimmen Erlebnis berichte. Ich würde mir wahrscheinlich etwas Freiraum wünschen. Ich würde mir ein Glas Wasser wünschen oder dass mir jemand einen Ausweg aus der Situation aufzeigt.

Wir müssen uns auch der Machtdynamiken bewusst sein: Ich bin eine weiße Frau, die in ein Flüchtlingslager geht, möglicherweise mit weißen Mitarbeiter*innen von Nichtregierungsorganisationen. Die Befragten wissen vielleicht nicht, dass sie die Möglichkeit haben, „Nein“ zu Interviews zu sagen, weil sie denken, dass die Mitarbeiter*innen ihnen mehr helfen werden, wenn sie „Ja“ dazu sagen.

Kannst Du objektiv bleiben, wenn Du mit deinen Gesprächspartner*innen über traumatische Themen sprichst?

Ich glaube nicht an Objektivität. Du bist es, die die Geschichte erzählt. Wer bist Du? Welche Macht hast Du? Welche Erfahrungen hast Du gemacht? Seit einigen Jahren leiste ich mir den Luxus, in meiner Arbeit das Wort „ich“ zu verwenden. Nicht, weil ich über meine Erfahrungen sprechen will, sondern um sicherzustellen, dass ich meinen eigenen Hintergrund erkläre.

Menschlichkeit steht an erster Stelle. Wie sieht eine objektive Geschichte über eine Mutter aus, die ihr Kind im Mittelmeer verloren hat? Natürlich gibt es Fakten und Zusammenhänge, die dargestellt werden müssen. Wir sollten nicht nur an die Emotionen appellieren. Wenn wir eine Geschichte über Migration schreiben, ist es sehr wichtig, dass wir erklären, warum dieses Kind im Meer gestorben ist: Sein Tod ist ein Ergebnis der EU-Politik, die Migrant*innen fernhalten will.

Der Titel Deines heutigen Vortrags lautete „Mental Health: How to stay sane in the news business“ (dt.: Mentale Gesundheit: wie man in der Journalismusbranche bei Verstand bleibt). Wie bleibst Du gesund?

Das Wichtigste ist, dass man sich bewusst ist, wie sehr der Beruf einen beeinflusst. Wir Menschen wollen möglichst intakt sein – um unserer selbst willen, aber auch um unseres Jobs willen. Ich habe lange gebraucht, um mir dessen bewusst zu werden. Ich wusste, dass ich therapeutische Behandlung benötige, aber nicht, dass ich diese Behandlung auch wegen meiner Arbeit benötige.

Ich habe mich von Eilmeldungen abgewendet. Ich begrenze die Zeit, in der ich Nachrichten lese. Ich betreibe kein Doomscrolling, also exzessives Scrollen durch den Nachrichtenstrom, mehr. Ich frage nach Hilfe, wann immer ich sie brauche und das ist ständig der Fall. Ich tue kleine Dinge, die mir Freude bereiten, zum Beispiel spazierengehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

(Hier die Originalversion des Gesprächs auf Englisch)

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