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Minimalismus versus Messie

Von Sophia Hörhold / 20. April 2022
picture alliance / Zoonar | lev dolgachov

Für viele hatten die Lockdowns im Winter immerhin eine positive Seite: Es wurde fleißig ausgemistet. Spätestens seit Marie Kondōs Aufräumratgebern liegt das ja generell im Trend. Doch die japanische Methode will gelernt sein.

Wir Deutschen sind ordentlich. Was nach Klischee klingt, ist sogar statistisch belegt. 64 Prozent der Deutschen nehmen es laut einer Studie der Apotheken Umschau mit der Ordnung in den eigenen vier Wänden sehr genau, 47,9 Prozent gaben sogar an „Unordnung nicht ertragen zu können“.

Nicht erst seit der Coronapandemie ist Aufräumen, und vor allem auch Aussortieren, im Trend. Auf Blogs, in Zeitschriften oder auf Youtube-Channels wird man regelrecht dazu aufgefordert, zuhause klar Schiff zu machen – das schlechte Gewissen für alle, die darauf keine Lust haben, gibt es gratis dazu. Die Beiträge wimmeln von praktischen Tipps und Warnschildern zu Vermeidung von „typischen Fehlern“. Denn Aufräumen gilt als etwas Positives. Es befreit, soll der Seele guttun und, wenn man es nur richtig angeht, sogar Spaß machen. Angeblich. Aber wie geht das: “richtig“?

Marie Kondō: Die Rettung aus Japan für alle Chaos-Queens und -Kings

Seit ein paar Jahren gibt es einen Stern am Ordnungshimmel, eine zierliche japanische Frau, die ein für alle Mal Ordnung in die Häuser und Wohnungen dieser Welt bringen will.

2011 gelang Marie Kondō mit ihrem Buch „Magic Cleaning – wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert“der internationaleDurchbruch. Zwei weitere Bücher folgten. Sie wurden in 27 Sprachen übersetzt und insgesamt sieben Millionen Mal verkauft. Erst im japanischen Fernsehen, später auf Netflix besucht Kondō Menschen in ihren vollgestellten Wohnungen und beseitigt das Chaos. Ihre Strategie, die den Namen „KonMarie Philosophy“ trägt, wurde international zum Hype. Weltweit sprangen Aufräum-Spezialist:innen auf den Zug auf, die ihrerseits Bücher und YouTube-Videos oder sogar Kurse zur Marie-Kondō-Methode anbieten.

Das Prinzip ist stets dasselbe: Beim Ausmisten soll man sich darauf besinnen, was man wirklich braucht. Der Vorgang folgt festen Kategorien, die in einer bestimmten Reihenfolge abzuarbeiten sind: Kleidung, Bücher, Papiere, Kleinkram, persönliche Gegenstände. Dabei soll man immer vom am wenigsten Emotionalen, zu Dingen, an denen man hängt, vorgehen.

„Does it spark joy?“ Bereitet es Freude? Diese Frage soll man sich bei jedem einzelnen Gegenstand stellen. Lautet die Antwort „nein“, wird der Gegenstand aussortiert. So sollen neben Dingen, die einen essenziellen Zweck erfüllen, nur solche übrig bleiben, an denen man tatsächlich hängt. Klingt einleuchtend, sogar irgendwie simpel.

Kompletter Neustart statt einmaliger Aufräumaktion

Die 1984 in Tokio geborene Kondō selbst bezeichnet sich als „Ordnungsberaterin“. Ihr Internetauftritt macht deutlich: Es handelt sich nicht bloß um eine Aufräumanleitung, sondern um ein Prinzip. Statt einer einmaligen großen Aktion verspricht sie die Chance auf einen Neustart für das gesamte Leben. Nur eben: aufgeräumt.

Ohne Irritationen geht es dann aber doch nicht. Auf ihrer Website wird von Ordnungsboxen über Wellnessartikel bis hin zu Turnbeuteln mit Hasengesichtern aller möglicher Krempel verkauft, den man beim Aufräumen und Ausmisten standardgemäß eher rausschmeißt.

Sicher ist: Aufräumen ist „in“, Minimalismus gilt als schick und will gekonnt sein. In einer Gesellschaft aber, in der Ordnung und Sauberkeit als Tugenden gelten, über die jede „anständige“ Person wie selbstverständlich verfügen sollte, haben es Leute, denen genau das schwer fällt, nicht immer leicht.

Die Anti-MarieKondōs – das Messie-Syndrom

„Mess“= Unordnung, Chaos Durcheinander. Der Begriff „Messie“ wurde in den 1980er Jahren durch eine US-amerikanische Selbsthilfebewegung geprägt. Gemeint sind Menschen, die ein grundlegendes Problem damit haben, Ordnung zu halten. Sie können sich nicht von Dingen trennen und horten zuhauf selbst völlig wertlose Gegenstände.

Je nach Ausprägung kann das bis zur Unbewohnbarkeit der eigenen vier Wände führen. Neben aktiven, gibt es passive Sammelnde, bei denen sich Müll in der Wohnung stapelt, den die Betroffenen einfach nicht entsorgen können. Beim „destruierten Wohnen“ sind die Sanitäranlagen so weit beschädigt, dass sie nicht mehr verwendet werden können. Speisereste, Exkremente und Abfälle liegen überall in der Wohnung verteilt. Als Nebeneffekt des Messie-Syndroms ist oft das Sozialleben der Betroffenen stark beeinträchtigt.

In Deutschland leiden 1,8 Millionen Menschen unter dem Messie-Syndrom. Allerdings geht diese Schätzung nicht auf konkrete Diagnosen zurück, da das Syndrom nicht als psychische Krankheit gelistet ist. Dessen ungeachtet ist das Netz voll von Erfahrungsberichten, Reportagen, Porträts, Erklär-Videos rund um das Thema. Ihr gemeinsamer Nenner: Betroffene werden oft stigmatisiert und schämen sich für ihre Wohn- und Lebenssituation.

Neugier: ja, Forschung: jein

Trotz der großen Aufmerksamkeit liegen nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zum Messie-Syndrom vor. Eine offizielle Definition steht noch aus. Fachliteratur dazu gibt es kaum. Vermüllungssyndrom, Desorganisationsproblematik, Diogenes-Syndrom oder auch Erledigungsblockierung: Die diversen Symptome lassen sich nicht auf medizinische Ursachen zurückführen und sind auch nicht allein Auswirkung einer anderen psychischen Erkrankung.

Ursachen für das Messie-Syndrom finden sich oft in Persönlichkeitsstörungen, die auf eine zu strenge Erziehung zurückzuführen sein sollen. Vielen Betroffenen steht ein krampfhafter Perfektionismus im Weg. Eine extreme Angst, beim Loslassen falsche Entscheidungen zu treffen, hindert sie daran, sich von Dingen zu trennen. Ebenso problematisch ist, was absurd klingt: Viele Messies leben jahrelang ordentlich. Oft führen Lebenskrisen wie eine Scheidung dazu, dass sie nicht mehr in der Lage sind, den bisherigen Lebensstil mit Struktur und Ordnung beizubehalten.

In vielen Städten gibt es Hilfsangebote, von Beratungseinrichtungen über Selbsthilfegruppen bis hin zu persönlichen Betreuern, die nach Hause kommen und beim Aufräumen helfen. Doch an die Wohnung einer Marie Kondō mit perfekt gefalteten Strumpfhosen und nach Farben, Genre oder Alphabet sortierten Bücherregalen wird jemand mit einem chronischen Desorganisationsproblem wohl nie herankommen. Die Frage ist, ob das, was auf Einrichtungs-Instagram-Kanälen, in Aufräum-Blogs und Minimalismus-Videos in Umlauf gebracht wird, überhaupt zum Standard erhoben werden muss. Und außerdem: Funktioniert Minimalismus nicht sowieso nur in Loft-Wohnungen und Luxus-Häusern so richtig gut?

2 Antworten auf „Minimalismus versus Messie“

  1. Von Leniii am 21. November 2023

    Der Unterschied zwischen Messies und Minimalisten ist ein interessantes Thema mit viel Interpretationsspielraum. Ich kam auf dieses Thema, als ich gestern mehrere Entsorgungscontainer vor der Haustür meines Nachbars sah. Er war anscheinend ein Messie.

  2. Von Noah_Dadri1 am 11. Januar 2024

    Auch ich war mal ein Messie, der sich einfach kaum von Gegenständen trennen konnte. Sie haben recht, es hängt oft mit der Vergangenheit und Trauma zusammen. Ich konnte mir zum Glück Hilfe suchen und nach paar Monaten die Wohnung entrümpeln. Es war ein tolles Gefühl.

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