„Nur über indigene Armut zu reden reicht nicht“
An einem UN-Bericht über den Zustand der Biodiversität haben Mitglieder indigener Völker mitgearbeitet. Hilft das den oft armen Völkern? Eine Ethnologin hat Zweifel.
Was Sandór Barta dem Botaniker Zsolt Molnár erzählt, steht in keinem Lehrbuch: „Sie fühlt sich wie das Zuhause an. Man kann das nicht beschreiben. Du musst es fühlen.“ Der ungarische Hirte meint die Natur. Ihr hat Barta sein Leben verschrieben. Er weiß, auf welche Weise karge Salzsteppen als Weideflächen dienen können und wie er seine Ungarischen Graurinder – eine alte Rasse, die vom Aussterben bedroht ist – züchten muss, damit sie Hitze und Kälte trotzen können.
In Zeiten des Klimawandels und zunehmenden Artensterbens kann so ein Wissen von Nutzen sein. Für einen Bericht des UN-Weltrat für biologische Vielfalt (IPBES) hat der Wissenschaftler Molnár deshalb mit traditionellen Hirten und Mitgliedern indigener Gemeinschaften zusammengearbeitet. Keine Selbstverständlichkeit: Indigene – die Nachfahren der Erstbewohner einer Region – werden in der Forschung meist marginalisiert. Auch an der politischen und wirtschaftlichen Ausrichtung der Mehrheitsgesellschaften nehmen traditionelle Völker kaum teil. Viele von ihnen leben in prekären Verhältnissen. Laut dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stellen Indigene 15 Prozent aller in Armut lebenden Menschen weltweit.
Nachfragen oder ausfragen?
Der IPBES-Bericht will traditionellen Volksgemeinschaften zu mehr öffentlicher Anerkennung verhelfen. „Der Kolonialismus hat viele Gesellschaften zur Seite geschoben, die Wissenschaft deren Wissen lange nicht wahrgenommen“, sagt Molnár. „Es ist Zeit für einen Wandel.“
Doch was bringt die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern indigenen Völkern wirklich? Nicht viel, glaubt Cristina Blohm von der Leuphana Universität Lüneburg. Die in Montevideo (Uruguay) geborene Ethnologin erforscht seit Jahrzehnten traditionelle Kulturen in Südamerika. Oft hat sie erlebt, dass Forscher zwar vorgeben, Indigene unterstützen zu wollen, sie in Wahrheit aber nur ausnutzen. „Meist suchen Wissenschaftler den Kontakt zu indigenen Völkern, weil sie etwas von ihnen haben wollen – seien es natürliche Ressourcen oder indigenes Wissen.“
Vielen Ethnien wäre laut Blohm am meisten geholfen, „wenn man ihre Rechte und Entscheidungen respektiert“. Wer als Forscher mit urspünglichen Gemeinschaften reden möchte, sollte sich vorher umfassend vorbereiten und schulen lassen und vor allem sehr behutsam vorgehen. Keinesfalls dürfe man in die Gebiete isoliert lebender Völker gewaltsam eindringen.
Indigene Armut in Europa
Doch von einem behutsamen Umgang sind viele Staaten weit entfernt: Wertvolle Ressourcen wie Erdöl, die sich in den oft naturbelassenen Wohngebieten der Indigenen finden lassen, wecken Begehrlichkeiten bei Unternehmen. Betroffen von der Gier nach Rohstoffen sind nicht nur die Inuit in Alaska oder die Guaraní in Brasilien – auch in Europa gibt es mit den Wepsen ein Volk, das massive Eingriffe in seinen Lebensraum erdulden muss.
In der von Wepsen bewohnten Region Karelien in Nordwestrussland liegt Europas größtes zusammenhängendes Waldgebiet. Seit Jahren fällt eine Holzmafia hier Bäume und verkauft sie auf dem Schwarzmarkt. Währenddessen müssen wepsische Rentner mit umgerechnet 60 Euro im Monat auskommen. Bei solchen Bedingungen kann es kaum wundern, dass viele junge Wepsen fortziehen – die angestammte Kultur droht auszusterben.
Auch die naturverbundene Lebensweise der Nenzen auf der sibirischen Jamal-Halbinsel ist in Gefahr: In dem autonomen Bezirk bohrt das deutsch-russische Joint Venture von Wintershall und Gazprom nach Erdgas. Pipelines verlaufen durch die Weidegründe und Wanderrouten der als Rentier-Nomaden lebenden Nenzen. „Wir haben Angst, wegen all der neuen Industrie bald nicht mehr umherziehen zu können“, sagt der Nenzen-Hirte Sergei Hudi. „Und wenn wir das nicht mehr können, könnte unser Volk verschwinden. Land bedeutet für uns alles. Alles.“
Jeder kann traditionellen Völkern helfen
Der Rohstoffhunger vieler Staaten und Wirtschaftsunternehmen ist Gift für indigene Völker. Die Dominanz des neoliberalen Weltbilds zwingt sie dazu, sich ihm anzupassen und ein nach westlichen Maßstäben „modernes“ Leben zu führen. Viele Indigene kommen damit jedoch nicht zurecht, werden depressiv oder alkoholabhängig. Andere widersetzen sich und ziehen vor Gericht: Bislang gibt es aber nur wenige Fälle, in denen erfolgreich Klage eingereicht wurde.
An der Anerkennung indigener Kulturen mangelt es vielerorts. Daran wird wohl auch der IPBES-Bericht nur wenig ändern. Nach Meinung der Ethnologin Cristina Blohm brauche es einen gesellschaftlichen Sinneswandel, um indigene Traditionen zu schützen: „Bei manchen Ethnien zeigt sich Reichtum weniger in materiellem Besitz als in der Möglichkeit, selbstbestimmt in der eigenen Kultur und Gemeinschaft leben zu können – und Zeit für das Miteinander und Muße zu haben.“
Das impliziert, dass natürlich auch der Lebensraum Indigener nicht derart beansprucht werden dürfe, dass ihre Existenz bedroht ist. Raubbau, wie beispielsweise durch die Rodung des Regenwalds, müsse verhindert werden, betont Blohm. Etwa durch achtsamen Konsum, der Palmölprodukte ausschließt. „Nur über indigene Armut zu reden reicht nicht“, betont die Ethnologin: „Es müssen auch Taten folgen.“