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Polen als Scharnier zwischen Ost- und Westeuropa

Von Leonie Haueisen / 5. Oktober 2015
picture alliance / Zoonar | Aleksey Butenkov

Dietmar Nietan ist SPD-Bundestagsabgeordneter und Schatzmeister sowie Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft. Im Interview spricht er über die Rolle Polens in der EU und der europäischen Integration sowie über die anstehenden Parlamentswahlen im Oktober.

Wie würden Sie die Entwicklungen seit dem EU-Beitritt Polens und seine derzeitige Rolle in der EU beschreiben?
Es gibt unzählige Bereiche, in denen sich Polen seit dem Systemwechsel von 1989 entwickelt hat. Vor dem EU-Beitritt sah sich das Land insbesondere mit der politischen und – was von der Bevölkerung zum großen Teil als sehr schmerzhaft empfunden wurde – wirtschaftlichen Transformation konfrontiert. Beides ist in den Jahren 1990-2004 dahingehend erfolgreich umgesetzt worden, dass Polen die Kriterien zur Aufnahme in die angestrebten westlichen Bündnisse erfüllt hat. Es trat 1999 der NATO und 2004 der EU bei.

Seit 2004 haben die Entwicklungen in den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft und Außenpolitik enorm an Tempo zugenommen, sodass ich nur einige der wichtigsten Aspekte hervorheben kann. Wie viele andere postsozialistische Staaten musste auch Polen beispielsweise mit dem Korruptionsproblem zurechtkommen. Dabei ist die Entwicklung beachtlich: lag Polen laut Angaben von Transparency International im Jahr 2004 noch auf Platz 70, so lag es 2014 nach 10 Jahren in der EU auf Platz 35. Die Bekämpfung der Korruption in Polen ist somit beispielhaft. Ähnlich erfolgreich entwickelten sich das Wirtschaftswachstum und der Rückgang der Arbeitslosigkeit. Seit dem EU-Beitritt hat sich das polnische BIP nahezu verdoppelt, die Wirtschaft ist zwischen 2003 und 2014 um 49% gewachsen (EU Durchschnitt: 11%). Die Zahl der Arbeitslosen sank von 19% im Jahr 2004 auf 10% im Jahr 2015. Das Land hat durch die effektive Nutzung von EU-Mitteln seine Infrastruktur modernisiert und zahlreiche Projekte, gerade auch im dritten Sektor, erfolgreich umgesetzt. Doch trotz der beachtlichen Erfolge gibt es natürlich noch viel Nachholbedarf, vor allem in den Bereichen Arbeitsrecht, Lohnentwicklung und Gesundheitswesen, um nur die wichtigsten zu nennen. Dies sind Themen, die die Gesellschaft bewegen und bei den kommenden Parlamentswahlen eine entscheidende Rolle spielen werden.

Was Polens Stellung in der EU betrifft, so muss man feststellen, dass es von Beginn seiner Mitgliedschaft an die Initiative ergriffen hat und seitdem um aktive Mitgestaltung der Gemeinschaft bemüht ist. Als Stichwort sei an dieser Stelle die „Östliche Partnerschaft“ genannt, die von Polen maßgeblich mitgestaltet wurde. Polen versteht sich als Scharnier zwischen Ost- und Westeuropa und ist bestrebt, die östlichen Nachbarländer an die EU heranzuführen, was besonders während der orangenen Revolution in der Ukraine sowie des jüngsten Konflikts mit Russland sichtbar wurde. Auf der anderen Seite ist der polnische Einfluss in anderen Bereichen beschränkt. In der Bewältigung der Eurokrise und bei der Rettung Griechenlands blieb Polens Rolle marginal, da es selbst nicht der Eurozone angehört und von vielen der aufgekommenen Probleme selbst nicht direkt betroffen war.

Dietmar Nietan ist Mitglied und stellvertretender Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe. © Dietmar Nietan, 2013

Wie steht Polen zur europäischen Integration bzw. zu weiteren Integrationsschritten?
Die Polen begeistern sich mehrheitlich für die europäische Idee, verkörpert durch die EU, was auch die Umfragen stets aufs Neue belegen. Die Zahl der EU-Gegner ist gering. Andererseits sind die Polen zunehmend skeptisch im Hinblick auf den Beitritt zur Währungsunion. Die politische Zusage zum Beitritt ist zwar bereits erfolgt, doch es bleibt abzuwarten, wann dies umgesetzt wird.

Außenpolitisch bekennt sich Polen hingegen zur stärkeren Integration, insbesondere auch zur engeren Zusammenarbeit mit den östlichen Nachbarn der EU. Auch in anderen Bereichen wird eine stärkere Integration befürwortet. So sprach sich 2014 der damalige Ministerpräsident Donald Tusk für eine europäische Energieunion aus, um die Abhängigkeit einzelner EU-Mitgliedsstaaten von Energielieferungen zu teilweise unterschiedlichen Preisen zu verringern.
Im Hinblick auf eine stärkere Zusammenarbeit auf EU-Ebene bei der Bewältigung der Aufnahme von Flüchtlingen ist Polen hingegen reserviert und spricht sich klar gegen verbindliche Auflagen zur gerechteren Verteilung von Asylsuchenden aus. Um die Solidarität in Europa dauerhaft zu stärken wird sich, wie ich finde, Polen in Zukunft auch mit solchen kritischen Fragen auseinandersetzen müssen.

Wie stark schätzen Sie heutzutage noch das Spannungsfeld Polens zwischen nationaler Souveränität und europäischer Integration bzw. zwischen den USA und der EU ein?
Die Zeiten, als die Perspektive auf den EU-Beitritt Ängste um die eigene, erst 1989 wiedererlangte Souveränität auslösten, sind meines Erachtens vorbei. Polen hat sich schon immer als Teil Europas verstanden. Die intellektuellen Eliten, die zu sozialistischen Zeiten nur im Untergrund bzw. Exil ihre Gedanken äußern konnten, haben bereits sehr früh erkannt, dass Polens selbständige Existenz nur im Bündnis mit Europa vorstellbar sei. Dieses Ziel wurde Jahrzehnte lang verfolgt und mündete in dem ersehnten EU-Beitritt, was nicht mit dem Verlust der eigenen Souveränität wahrgenommen wird.

Polen legt besonderen Wert auf gute Beziehungen zu den USA, die als Garant für den Frieden und die Souveränität angesehen werden. Das Vertrauen auf den stärksten NATO-Bündnispartner ist nach wie vor sehr groß. Seit Beginn des Krieges in der Ostukraine kann beobachtet werden, dass Polen auf eine zunehmende Präsenz US-Amerikanischer Truppen auf eigenem Boden drängt. Die Bedrohung durch Russland wird als real empfunden. Polen hat sich bei den Missionen im Afghanistan und dem Irak als treuer Verbündeter der USA erwiesen. Im Gegenzug erhielt es Unterstützung bei der Modernisierung seiner Armee. Ich denke, dass auch in naher Zukunft Polen versuchen wird, die Integration zwischen der EU und den USA zu fördern.

Wie wirken sich die anstehenden Wahlen auf Polens Sicht auf die EU aus?
Die kommenden Parlamentswahlen werden primär von innenpolitischen Themen bestimmt, bislang ist nicht zu erkennen, dass europäische Fragen im Vordergrund stehen. Erstaunlicherweise spielt auch der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eher eine untergeordnete Rolle. Die öffentlichen Debatten beziehen sich vornehmlich auf gesellschaftspolitische Themen. Wenn die jetzige Regierungskoalition keine erneute Mehrheit finden sollte, so kann mit einem konservativen Rechtsruck, wie er nach der Wahl von 2005 erfolgte, gerechnet werden. Die rechtskonservative Partei Recht und Gerechtigkeit, die derzeit in den Wählerumfragen vorne liegt, aber auch andere Gruppierungen aus dem rechten Spektrum, sprechen sich für einen stärkeren Nationalstaat aus. Dies ist nicht nur ein polnisches Phänomen, sondern in nahezu allen Staaten der EU zu erkennen, wie z.B. in Schweden, Frankreich oder auch Ungarn. Übrigens: die Partei Recht und Gerechtigkeit hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie das politische und gesellschaftliche Model von Viktor Orbán in Polen einführen möchte. Sollten bei den Parlamentswahlen die rechtskonservativen Kräfte siegen, so ist mit einem anderen, stärker auf nationale Interessen ausgelegten EU-Kurs Polens als bislang zu rechnen.

Für wie wichtig halten Sie die Zusammenarbeit im Rahmen des Weimarer Dreiecks für die EU?
Das Weimarer Dreieck ist ein Zusammenschluss von drei Staaten, die von ihrer Staatsfläche und Bevölkerungszahl her eine bedeutende Rolle innerhalb der EU einnehmen. Das Tandem Deutschland und Frankreich auf der einen Seite, oftmals als Motor der EU bezeichnet, sowie das aufstrebende Polen, das das sogenannte neue Europa verkörpert. Die reale Wirkungsmacht dieses Bündnisses würde ich jedoch nicht überschätzen, schließlich ist es nicht als Konkurrenzbündnis zur EU gedacht. Es verfolgt vielmehr das Ziel, den Austausch und die Koordination politischer Entscheidungen zwischen diesen strategisch bedeutenden Staaten zu fördern. Es ist ebenfalls ein geeignetes Instrument, um die Zusammenarbeit auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu intensivieren und so für die europäische Idee zu werben.

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