ProEin Baumhaus für ein Millionenpublikum
Die Digitalisierung eröffnet mit ihren neuen Geschäftsmodellen gerade auch Menschen in wirtschaftsschwachen Regionen ungeahnte Einnahmequellen. Damit kann sie dazu beitragen, die Not durch weltweite Armut zu lindern.
Hoch über dem Kirindioya-Fluss in Tissamahara, Sri Lanka, in einem Baumwipfel eines großen Kumbuk-Baumes, thront Shehans Haupteinnahmequelle: das Kumbuk Tree House, ein selbstgebautes Holzhaus, zwei Betten, Toilette, Dusche, Veranda. 69 Euro und mehr kostet die Nacht hier, etwa ein Viertel über dem Monatseinkommen eines sri-lankischen Supermarktkassierers. In der Hochsaison kann der Preis sogar auf mehr als 80 Euro steigen.
Drei Prozent seiner Einnahmen muss Shehan an die Plattform Airbnb abführen, auf der sein Haus inseriert ist. „Ein fairer Preis“, findet Shehan, denn allein durch die Plattform kann er sein Baumhaus einem weltweiten Millionenpublikum anbieten. Statt wie einige seiner Freunde in prekären Verhältnissen unter der Armutsgrenze zu leben, kann er als alternativer Gastgeber wenigstens seine Familie gut ernähren.
Bewertungen als digitale Währung
Die Digitalisierung mit ihren neuen Technologien und Vernetzungsmöglichkeiten hat Shehan und vielen anderen Menschen in wirtschaftsschwachen Regionen eine komplett neue Perspektive eröffnet. Über Airbnb und andere digitale Plattformen können sie mit geringem Aufwand Unterkünfte in entlegeneren Gegenden abseits ausgetretener Touristenpfade anbieten. Lediglich ein Smartphone und eine Bankverbindung braucht es, um ein Inserat auf der Plattform einzustellen. „Wenn es euch gefällt, empfehlt mich auf Airbnb“, sagt Shehan.
In der digitalen Welt, in der viele Geschäfte zwischen Unbekannten über tausende Kilometer hinweg abgeschlossen werden, sind gute Kundenbewertungen die Währung Nummer eins. Sie schaffen Vertrauen. Eine schlechte Bewertung kann gerade kleinen, unprofessionellen Anbietern schnell die gerade erst gewonnene Existenzgrundlage entziehen.
Digitalisierung kann Armut beseitigen, aber eine Garantie für bleibenden Wohlstand ist sie natürlich nicht. Bisher macht Shehan offenbar alles richtig: Er ist ein sogenannter Superhost, gehört laut Airbnb also zu den „erfahrenen, erstklassig bewerteten Gastgebern, die sich sehr engagieren, um ihren Gästen großartige Aufenthalte zu bieten“.
Teilen statt Kaufen: Die Sharing Economy
Nicht nur auf Anbieterseite, sondern auch unter den Nachfragern kann Digitalisierung dazu führen, dass Menschen sich mehr leisten können, zumal sich die Konsumoptionen im Vergleich zu früher vervielfacht haben. Durch die sogenannte Sharing Economy etwa tritt die geteilte Nutzung von Gegenständen an Stelle ihres Eigentums. Beim Carsharing fahren Menschen zeitweise gemeinschaftlich ein Auto. Bei Bedarf fahren sie eine Strecke gegen eine geringe Nutzungsgebühr und stellen das Auto dann einfach wieder ab. Ortung und Zahlung laufen unkompliziert über eine App.
2017 gab es laut dem Bundesverband CarSharing rund 17.200 Carsharing-Autos in Deutschland. Vor allem in den Großstädten teilen sich immer mehr Menschen Autos. Für einige erübrigt sich damit die Anschaffung eines kostspieligen eigenen Gefährts. Andere werden durch das Carsharing überhaupt erst mobil.
In digitalen Nachbarschaftsnetzwerken tauschen Nachbarn viel mehr als Autos aus: Bohrmaschinen, Grills, sogar Wäscheleinen werden umsonst oder gegen eine „kleine Nettigkeit“ verliehen. Dadurch, dass die Menschen digital und im geregelten Umfeld der Plattform miteinander kommunizieren können, funktioniert der Austausch reibungsloser und schneller als auf analogen „Marktplätzen“ wie etwa dem schwarzen Brett im Supermarkt. Getreu dem geflügelten Leitwort „Sharing is Caring“ verteilt sich der Nutzen von Eigentum über so viele Menschen wie möglich.
Informationen für alle
Neben der Milderung der finanziellen Armut kann Digitalisierung auch dazu beitragen, dass ein eingeschränkter Zugang zu Informationen, die Informationsarmut, abnimmt. Sobald ein Mensch mit dem Internet verbunden ist, hat er theoretisch Zugriff auf Abermillionen von Informationen und Wissensdatenbanken – und zwar unabhängig von seinem sozialen Status, von seinem Bildungsniveau und seiner Abstammung. Allein: Die Spreu vom Weizen trennen und realitätsgetreue Informationen von tendenziösen oder sogar Fake News unterscheiden zu können, ist eine große Herausforderung und fällt vielen Menschen schwer.
Bei aller Zuversicht, dass Digitalisierung die Not, die mit Armut verbunden ist, lindern kann: Noch ist es tatsächlich so, dass der Digitalisierungsgrad mit dem Einkommen der Menschen steigt, wie eine Studie der Initiative D21 für Deutschland belegt. Ärmere Menschen haben demnach weniger Teilhabe an der Digitalisierung im Sinne der Geräteausstattung und einem Internetzugang, nutzen digitale Anwendungen seltener, sind weniger digital kompetent und der Digitalisierung gegenüber eher verschlossen als wohlhabendere Menschen. Das muss sich ändern, um Armut zu reduzieren.
Sicherlich ermöglicht die Digitalisierung vielen Menschen gerade in ärmeren Regionen der Welt neue Wege der Selbstentfaltung und beruflichen Entwicklung. Aber die Risiken, die diese Möglichkeiten gefährden, kommen von Politik und Anbietern selbst: Wenn es irgendwann durchgesetzt wird, dass grenzenloses Surfen nur noch für wohlhabende Leute möglich ist und dass die Internetnutzung ärmerer Menschen gedrosselt wird, dann ist die große und linke Hoffnung, die man an die Digitalisierung knüpfen kann, begraben.
Das ist doch genau der Punkt, den konservative Politiker wie de Maiziere und Seehofer nicht verstehen wollten, als sie sich zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 darüber aufregten, dass die Flüchtlinge alle Smartphones besitzen. Sie bedienten – entweder aus Unwissen oder vorsätzlich – das Stereotyp, dass Geflüchtete nur arm zu sein hätten und als Arme kein Smartphone dabei haben durften. Abgesehen vom Zynismus, der sich darin offenbarte, bewiesen solche Äußerungen einmal mehr, dass das Internet nicht nur für die Kanzlerin „Neuland“ ist.