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ProDer Einzelne macht’s

Von Sophia Förtsch / 30. Juni 2023
picture alliance / Zoonar | Khosrow Rajab Kordi

Seien wir ehrlich: Obwohl sich seit der Digitalisierung einiges in der Arbeitswelt verändert hat, ist selbstbestimmtes Arbeiten immer noch ein Privileg. Die vielen Berufe, in denen Arbeitsplatz sowie -zeiten vorgegeben sind, lassen sich nicht einfach umstrukturieren.

Eigentlich wissen wir es: Die meisten Jobs in Unternehmen sind weisungsgebunden und unterliegen einem strikten Arbeitsablauf. Arbeiten, so wie man es selber für sinnvoll hält, ist nur wenigen Arbeitnehmern vorbehalten.

Wenn man an selbstbestimmtes Arbeiten denkt, kommen einem zuallererst Selbstständige oder Freiberufler, also Selbstständige ohne Gewerbe, in den Sinn. Sie ordnen sich niemandem tatsächlich unter, können ihre Auftraggeber und Aufgaben selbst aussuchen, bestimmen selber, wo sie arbeiten möchten und wie sie sich ihre Zeit einteilen. Allerdings stimmt natürlich dieser Eindruck nicht zu 100 Prozent. Auch diese Berufsgruppe ist auf ihre Art abhängig – von Deadlines, Kundenwünsche, Honorarpauschalen – und manchmal sogar zum zeitweiligen Wechsel des Arbeitsortes gezwungen.

Laut Duden steckt hinter Selbstbestimmung die „Unabhängigkeit des bzw. der Einzelnen von jeder Art der Fremdbestimmung (z.B. durch gesellschaftliche Zwänge, staatliche Gewalt)”. Verbunden ist Selbstbestimmung also mit Freiheit, aber auch Eigenverantwortung und Eigenständigkeit gehören dazu. Während Freiberufler sich ihre Zeit frei(er) einteilen und ihren Arbeitsplatz zumindest mitbestimmen können, gilt das kaum für Angestellte.

Das klassische Modell dominiert

Der klassische 9to5-Angestelltenjob ist ein System mit Fluch und Segen. Es hält zwar die Wirtschaft am Laufen, zehrt aber jahrelang die Menschen langsam aus, wenn man die unaufhörlichen Berichte zum Thema Burnout bedenkt.

Auch hat die Pandemie einmal mehr gezeigt, dass “systemrelevante” Berufe an Ort und Zeit gebunden sind. Eine Pflegerin – egal ob ambulant oder stationär – kann nicht einfach arbeiten, wie, wann und wo sie möchte. Alte oder kranke Menschen brauchen einen geregelten Tagesablauf. Ebenso gilt dies für Ärzte oder Lehrer, Polizisten oder Verkäufer.

Wer dagegen in der Lage ist, regelmäßig etwa den Ort, die Kollegen oder einen fairen Lohn sowie Inhalt und Struktur des Arbeitsalltags mitzubestimmen, ist privilegiert. Also auf in die Selbstständigkeit? Was Einzelnen reizvoll erscheint, wagen nur wenige. Ein eigenes Unternehmen zu gründen, bedeutet oft noch immer, für mehr Freiheit auf finanzielle Sicherheit zu verzichten.

Der Grad an Selbstbestimmung unterscheidet sich je nach Arbeitsverhältnis und Branche erheblich. In Berufen, in denen an Maschinen gearbeitet wird, oder im Handwerk sowie im Dienstleistungssektor, ist die Möglichkeit selbstbestimmter Beschäftigung meist seltener gegeben als in Büroberufen. Doch auch hier ist beispielsweise das Arbeiten im Homeoffice trotz Digitalisierung längst nicht selbstverständlich.

Was macht das mit Berufstätigen? Eine umfangreiche vergleichende Untersuchung, die Europäische Erhebung über die Arbeitsbedingungen (EWCS), bestätigte diese beklagenswerten Umstände 2015. Demnach konnten nur die Hälfte der Befragten ihre Arbeit in Vorgehensweise, Reihenfolge und Rhythmus selbstbestimmt ausüben.

Eine (verschenkte) Win-Win-Situation

Was bedeutet das für die Arbeitsmotivation und die Identifikation mit dem Job? Im Idealfall wird die eigene Tätigkeit als wichtig und sinnvoll erachtet, eigene Ideen können und dürfen eingebracht werden. Das steigert im besten Fall sowohl Effizienz und Zufriedenheit als auch Wertschätzung. Im Worst-case-Szenario gelingt kaum etwas davon.

Sich selbstständig machen verspricht eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Selbstbestimmung baut somit auf Selbstständigkeit. Diese ließe sich auch im Angestelltenjob realisieren. Wenn die Qualität der (Zusammen-)Arbeit gesteigert werden kann, profitieren schließlich alle davon. Warum viele Unternehmen diese Chance leider nicht nutzen und, auch dort wo Alternativen möglich und sinnvoll wären, lieber an alten Arbeitsstrukturen festhalten, bleibt deren Geheimnis.

Am Ende sollte die Erkenntnis stehen: Mitarbeiter zu beschäftigen, die ihren Job kaum als Erfüllung, sondern stattdessen als notwendiges Übel für den Lebensunterhalt betrachten, bringt angesichts des Fachkräftemangels der Arbeitgeberseite auf lange Sicht keine Vorteile. Noch aber sind wir nicht soweit, dass die Arbeitnehmerseite von diesem Zustand wirklich profitiert, und darum ist selbstbestimmtes Arbeiten für die meisten nicht Realität, sondern Wunschdenken.



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