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ContraVielfalt leidet nicht unter Tradition, sie lebt von ihr

Von Claudia Ermel / 29. Mai 2019
picture alliance / Michael Weiring/Shotshop | Michael Weiring

Kosmopolitisch sein funktioniert nicht, wenn wir uns selbst kulturell beschneiden. Mit christlich geprägten Traditionen zu brechen oder sie gar abzuschaffen, ist der falsche Weg.

Ist jüngst häufiger von „die Vielen“ die Rede, so meint diese Bezeichnung auch die erwünschte Vielfalt unserer Gesellschaft, welche sich aus vielen einzelnen, gleichberechtigten Individuen zusammensetzen sollte. In einer Demokratie, die Persönlichkeitsrechte und Religionsfreiheit achtet, gilt immerhin für jede und jeden das Recht auf eine eigene Lebensgestaltung. Das meint, eigene Bräuche und Riten gehören auch dazu.

Seitdem ich Menschen aus anderen Kulturen begegne und ihre Traditionen kennenlerne, verändert sich allmählich auch meine Sichtweise auf die hiesigen. Ich begreife, dass diese ebenso Teil des breiten Spektrums an Kulturenvielfalt in Deutschland sind wie all die anderen, exotischeren. Die Menschen aus anderen Ländern halten mir somit unwissentlich einen Spiegel vor: Sie leben ihre Bräuche, ohne meine damit grundsätzlich in Frage zu stellen. Warum sollte ich das tun?

Weihnachtliches Krippenspiel abschaffen?

Es hat keinen Sinn, das alljährliche Krippenspiel an Weihnachten aufzugeben, nur weil es eine Geschichte aus der christlichen Religion erzählt. Dies wäre genau das falsche Signal an kulturell anders geprägte Menschen, die doch extra versuchen, sich in der neuen Heimat zu orientieren und auch anzupassen. Unsere Willkommensbotschaft ist gelungener, wenn sie lautet: „Wir respektieren alle (menschenwürdigen) Traditionen gleichermaßen und laden Menschen aus aller Welt ein, zusätzlich an unseren Bräuchen teilzuhaben.“

Gerade in den Schulen und Kindergärten können alle voneinander lernen, welche Bräuche, Feste und Sichtweisen unterschiedlich oder auch ähnlich sind. Ein Gemeinschaftsgefühl muss nicht unbedingt bedeuten, dass sich eine Gruppe abgrenzt, sondern kann ebenso vermitteln, dass jede Gruppe eine klare Identität pflegt und zugleich offen für alle anderen ist. Kinder können – manchmal fast wie nebenbei – auch “Türöffner“ für die diversen Communities sein.

Geflüchtete oder aber Migrant*innen, die bereits seit Jahren oder Generationen in Deutschland leben, interessieren sich ohnehin dafür, wie die klassischen hiesigen Traditionen gelebt und gefeiert werden. Bei Menschen aus Syrien, Iran oder auch aus der Türkei sind unsere Weihnachtsrituale sogar sehr beliebt. Das Backen, Basteln, Schenken und Musizieren zur Adventszeit ist genau wie das Bemalen von Ostereiern längst willkommener Anlass für interkulturelle Treffen. Und türkischstämmige Mitbürger*innen in der zweiten oder dritten Generation feiern manch christliches Fest auf ihre ganz eigene Weise. Der religiöse Hintergrund spielt dabei keine Rolle – ähnlich wie bei vielen christlich erzogenen, aber inzwischen säkularisierten Deutschen.

Essen gehört immer dazu

Gleichzeitig erhalten Angehörige vieler Kulturen hier in ihrem deutschen Zuhause die Rituale und Feste aus ihrer Heimat mit besonderer Leidenschaft aufrecht. Gastfreundschaft gegenüber Nachbarn ist dabei oft selbstverständlich. Wenn, zum Beispiel, das kurdische Neujahrsfest Newroz und das persische Nouruz hier in meiner Stadt zelebriert werden, laden Angehörige mehrerer kurdischer Vereine und jene des persischen Kulturvereins Menschen aller Religionen und Kulturen dazu ein mitzufeiern. Wenn ich mich erinnere, mit wie viel Einsatz die kurdischen, persischen und afghanischen Familien vorab in ihren heimischen Küchen kochen, backen und unzählige Leckereien vorbereiten, fällt mir sofort unser Weihnachtsfest als Vergleich ein: Da haben auch unsere Mütter früher tagelang Plätzchen gebacken und die Vorräte aufgestockt, um einander zu beschenken.

Auch wenn es heute unterschiedliche Meinungen zu solchen Traditionen gibt, weil sie als zu kommerzialisiert oder auch als altbacken abgetan werden: Fakt ist doch, dass Erziehung und Erinnerung uns alle geprägt haben. Traditionen und Bräuche gehören zum Leben dazu. Sie können nicht einfach ignoriert werden, um etwas großartiges Neues, das uns alle verbindet, zu erschaffen. Dafür gibt es ja auch keinen Grund, denn der Brückenschlag zwischen den Kulturen wird längst geprobt. Ob Newroz, Feuersprung-Festival, Zuckerfest oder Fastenbrechen: Voller Stolz und Begeisterung laden Menschen aus dem Nahen Osten alle zur Teilnahme ein. Kulturvereine aus Georgien, der Ukraine, Griechenland, Peru oder Bangladesch inszenieren Tanz und Theater in ihren Landestrachten – und sind dabei immer häufiger offen für alle. Die Kosmopolitisierung der Gesellschaft findet längst statt.

Wir können von Migrant*innen lernen, entspanntere Deutsche zu werden

Oft sind Menschen anderer Herkunftsländer ebenso gespannt auf unsere kulturellen und kulinarischen Besonderheiten, wie wir auf ihre. Durch das Interesse an deutschen Traditionen und Gepflogenheiten geben uns Geflüchtete und Migrant*innen außerdem Gelegenheit, die eigene Sichtweise geradezurücken: Spätestens, wenn ich begeistert an den Traditionen meiner neuen Bekanntschaften aus Syrien teilnehme, fällt mir ein, dass ich meine Anti-Traditionen-Haltung auch den deutschen gegenüber aufgeben könnte.

In meiner Jugend war per se alles Traditionelle spießig und altmodisch. Heute beschämen mich die jungen Menschen aus dem Nahen Osten regelrecht mit ihrem Wissen und ihrer fast unbedarften Selbstverständlichkeit gegenüber ihren mitgebrachten, erlernten Ritualen. Und noch mit ihrer Neugierde auf die deutschen Traditionen.



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