DebatteMüssen die Spiele weitergehen?
Trotz erneut steigender Infektionszahlen hielt Tokio an den Olympischen Sommerspielen fest – immerhin ohne Zuschauer. Gelungener Mittelweg oder fauler Kompromiss? Ein Streifzug durch die olympische Geschichte.
Die derzeit in Tokio stattfindende 32. Olympiade der Neuzeit bricht bereits vor ihrem Beginn Rekorde. Noch nie gab es so viele Wettbewerbe (339) und Disziplinen (50) wie in der japanischen Hauptstadt. Auch der 2016 in Rio aufgestellte Rekord mit mehreren Tausend Teilnehmenden konnte dieses Jahr übertroffen werden. Dann gibt es da noch einen Superlativ – allerdings mit einem etwas faden Beigeschmack: So wurde “Tokio 2020“ zur ersten Olympiade, die zeitlich um ein ganzes Jahr verlegt wurde.
Verschiebungen kannte das Internationale Olympische Komitee (IOC) bislang nicht. Absagen gab es seit der Neuaufnahme der Spiele vor 125 Jahren nur fünf Mal. Die Sommerspiele 1916 in Berlin etwa fielen dem Ersten Weltkrieg zum Opfer, während die Sommer- und Winterspiele 1940 und 1944 aufgrund des Zweiten Weltkriegs gestrichen wurden.
Geht nicht? Gibt’s nicht! Olympia um jeden Preis
Im Regelfall fand das 1894 gegründete IOC stets eine Lösung. Wenn nicht gerade eine globale Krise herrschte, wechselte man bei Bedarf einfach den unliebsamen Gastgeber. So auch für die Winterspiele 1976. Ursprünglich sollten diese in Denver stattfinden, doch nachdem die Bewohner:innen des US-Bundesstaates Colorado Kosten und mögliche Umweltschäden durch die Olympiade per Referendum ablehnten, wanderte diese nach Innsbruck. Pragmatisch eben.
Dass das IOC in der Vergangenheit bestrebt war, die Spiele um beinahe jeden Preis zu retten, zeigt das Beispiel Deutschland. 1936 richtete das Deutsche Reich erst die Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen und kurz darauf die Sommerspiele in Berlin aus. Beide Veranstaltungen fanden trotz internationaler Boykottaufrufe weitestgehend erfolgreich statt und konnten ihre Wirkung als Propagandainstrumente eines scheinbar weltoffenen NS-Regimes frei entfalten.
Geradezu naiv scheint hierbei in Anbetracht der 1935 erlassenen “Nürnberger Rassengesetze“ das Vertrauen des IOC in die Verpflichtung der Reichsregierung, dass die Spiele frei zugänglich „für alle Rassen und Konfessionen“ sein würden. Von angeblich 21 vornominierten deutsch-jüdischen Athlet:innen wurden lediglich zwei „halbjüdische“ Sportler:innen für die beiden Olympiaden zugelassen. Ein Kompromiss, der beiden Seiten zusagte.
Deutschlands Werk und Brundages Beitrag
Quasi als Retter von Hitlers Olympia entpuppte sich der damalige Präsident des Amerikanischen Olympischen Komitees, Avery Brundage. Nur durch allergrößte Bestrebungen konnte er einen folgenreichen US-Boykott vermeiden, da viele Nationalkomitees sich nach der Teilnahmeentscheidung der USA richteten. Darüber hinaus stellte er sicher, dass auch die US-amerikanische Mannschaft möglichst ohne jüdische Athlet:innen antrat, um somit für Hitler „vorzeigbar“ zu sein.
Brundage trat auch bei den tragischen Münchner Sommerspielen von 1972 prominent in Erscheinung, diesmal als Präsident des IOC. Traurige Berühmtheit erlangten die Spiele wegen der Ermordung elf israelischer Teilnehmer:innen durch die palästinensische Terrororganisation “Schwarzer September“. Einen Tag nach dem Anschlag verkündete Brundage: „The games must go on“. Und so gingen die Spiele weiter, während Brundages immerhin 20-jährige Amtszeit als IOC-Präsident zusammen mit ihnen endete.
Forderungen nach einem Olympia-Abbruch oder -Boykott gab es immer wieder. Zehn Tage vor Beginn der Sommerspiele 1968 in Mexico City schlug die mexikanische Regierung – unter anderem gegen die Spiele gerichtete – Studierendenproteste in der Stadt gewaltsam nieder; mehrere Hundert Protestierende starben. Bekannt sind auch die Großboykotte von Ost- und Westblock zwischen 1976 und 1984, als Montréal, Moskau und Los Angeles drei deutlich geschrumpfte Sommerolympiaden ausrichteten. Zuletzt forderte nach Ausbruch des Kaukasuskrieges 2008 Georgien die Umverlegung der Winterspiele 2014 weg vom angrenzenden Sotschi. An der Austragung der Spiele änderte dies jedoch wenig.
Neuland für alle
Eine Blaupause für die diesjährigen Sommerspiele gibt es nicht. Zwar gab es 1920 Spiele in Folgeeiner Pandemie, als die Athlet:innen kurz nach dem Ende der Spanischen Grippe antraten, doch während einer Pandemie fanden sie noch nicht statt. 2016 traten aufgrund des Zikavirus in Brasilien 19 Sportler:innen nicht an. Für Tokio ist Zahl der Ausfälle schon jetzt höher und betrifft beispielsweise die gesamte nordkoreanische Delegation.
Die Bestrebungen der japanischen Regierung machen deutlich, wie wichtig ihr der Erhalt der Spiele ist – für ihren Ruf als Krisenmanagerin wie auch für die Wirtschaft. Möglicherweise geschönte Infektionszahlen und die Gefahr eines weltweiten Superspreaderevents durch die Teilnahme ungeimpfter Jungathlet:innen werden in Kauf genommen.
Einzig vergleichbares Unikum in der olympischen Geschichte: Ein Teil der Sommerspiele von Melbourne 1956 wurde bereits vorher in Stockholm ausgetragen, da einige der Wettstreitenden aufgrund von Quarantänebeschränkungen nicht nach Australien einreisen durften. Der kleine aber feine Unterschied zu heute: Bei den Betroffenen handelte es sich um Pferde, deren Einfuhr für die Reitwettbewerbe einer sechsmonatigen Quarantäne bedurfte. In Tokio betrifft angesichts der Coronafälle im Olympischen Dorf die Isolation die Sportler:innen selbst.