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DebatteWie gesund ist das deutsche Gesundheitssystem?

Von Simon Streit / 28. Februar 2020
Credits: Photo by Lucas Vasques on Unsplash;

In Deutschland ist der Großteil der Bevölkerung krankenversichert. Nicht wenige sind jedoch auch verunsichert. Sie fragen sich, ob sich das bestehende System auf Dauer bewähren wird, aber auch wer davon profitiert und wer benachteiligt oder gar ausgegrenzt wird.

1883 ließ Reichskanzler Otto von Bismarck alle deutschen Arbeiter krankenversichern, um sie von den aufstrebenden Sozialdemokraten zu entfremden. Seitdem ist viel passiert: Die sozialdemokratische Revolution liegt laut aktueller Umfragewerte in weiter Ferne und die gesetzliche Krankenversicherung versichert längst nicht mehr nur Arbeiter. Sie ist auf 73 Millionen Versicherte angewachsen und zum Herz des deutschen Gesundheitssystems geworden.

Wie aber steht es um das deutsche Versicherungs- und Gesundheitssystem im 21. Jahrhundert? Erreicht es sein Ziel, „die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu verbessern“, wie es im Fünften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V) steht?

Laut einer Umfrage der AOK zeigen sich 77 Prozent der Deutschen zufrieden mit ihrer Gesundheitsversorgung. In einem internationalen Ranking hingegen liegt das deutsche System in Sachen Zufriedenheit nur auf Platz 8 von 10.

Einen Ansatz, den Erfolg von Gesundheitssystemen zu messen, bietet ein aktueller Bericht der EU-Kommission. Im Rahmen einer europaweiten Analyse wird darin verglichen, wie die landesspezifischen Strukturen die Gesundheit ihrer Bevölkerung verbessern, wie mit Ressourcen umgegangen wird und ob ein gerechter Zugang zu Gesundheitsleistungen möglich ist.

Medizinische Versorgung statt guter Gesundheit

Zur körperlichen Verfassung der deutschen Bevölkerung zeichnen die Autoren der Studie ein pessimistisches Bild: Zwar leben Deutsche immer länger, werden allerdings nicht so alt wie ihre südeuropäischen Nachbarn. Dafür trinken, rauchen und essen sie zu viel, leiden im Alter häufig unter chronischen Erkrankungen und sterben nicht selten an Schlaganfall und Herzinfarkt.

Über die Qualität der medizinischen Versorgung sagen diese Daten nur bedingt etwas aus. Wie alt und gesund wir sind hängt zunächst davon ab, wie wir uns ernähren, wie wir wohnen, wie viel Feinstaub wir einatmen und wie wahrscheinlich es ist, bei einem Autounfall zu sterben. Diese Faktoren kann eine Ärztin im Krankenhaus nur bedingt beeinflussen.

Aussagekräftiger sind Informationen darüber, wie häufig Patienten an Krankheiten sterben, die sich zumindest theoretisch gut behandeln lassen. Dazu gehören zum Beispiel Herzinfarkte, Darmkrebs oder eine Lungenentzündung. Vergleicht man die zu diesen Erkrankungen gehörende Sterblichkeitsrate, liegt das deutsche System auch hier im europäischen Vergleich eher im Mittelfeld.

Gleichzeitig sind die Gesundheitsausgaben in Deutschland so hoch wie in fast keinem anderen Land in Europa. Es gibt vergleichsweise viel medizinisches Personal, dazu europaweit die höchste Anzahl an Krankenhausbetten und Kernspintomographen. Die Analyse der Kommission kommt daher zum Schluss, das deutsche Gesundheitssystem könne seine Ressourcen effizienter einsetzen.

Zugang zu medizinischer Versorgung

Die Kommission kommt weiterhin zu dem Schluss, dass ein Großteil der Krankenkassen insgesamt umfassende Leistungen erbringen. Kurze Wartezeiten und ein dichtes Netz an Arztpraxen und Krankenhäusern tragen außerdem dazu bei, dass sich die Kritik an mangelnder Versorgung, zu hohen Kosten oder großen Entfernungen in Grenzen hält. Die Forscher identifizieren jedoch auch Gruppen, die durch dieses Netz fallen.

Nicht registrierte Bürger, aber auch Immigranten oder Geflüchtete, die innerhalb der ersten 15 Monate ihres Aufenthalts nur Zugang zu eingeschränkten medizinischen Leistungen haben. So waren 2015 auch in Deutschland ca. 100.000 Menschen nachweislich nicht versichert. Das kann trotz Versicherungspflicht vorkommen, zum Beispiel wenn Selbständige mit niedrigem Einkommen sich privat versichern, aber die hohen Beiträge im Alter nicht zahlen können.

Ein weiterer wichtiger Aspekt wird in der Studie nur angeschnitten. Menschen mit niedrigem Einkommen sind häufiger krank und berichten von einem deutlich schlechteren Allgemeinzustand, gehen aber seltener zum Arzt. Dazu passt, dass das Gesundheitssystem häufiger von Patienten mit höherem Einkommen genutzt wird, insbesondere im Facharztbereich.

Verteilung von Ressourcen

Diskussionen um Gerechtigkeit drehen sich immer auch um die Frage nach der Verteilung von Ressourcen. Grundsätzlich sind Beiträge zur Krankenversicherung bis zu einer Grenze von aktuell 4687,50 Euro nach Einkommen gestaffelt. Oberhalb dieser „Beitragsbemessungsgrenze“ bleibt der Beitrag zur Krankenversicherung nahezu identisch und es besteht die Möglichkeit, aus der gesetzlichen in die private Krankenversicherung zu wechseln. Somit tragen in Deutschland Besserverdiener unterproportional zu ihrem Einkommen zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung bei.

Während die Partei Die Linke eine solche “Zwei-Klassen-Medizin“ abschaffen will, konstatiert der Verband der privaten Krankenversicherung eine „parteipolitisch motivierte Neid- und Einheitsdebatte”. Allerdings gibt es auch Kritik von Akteuren, die sozialistischer Umtriebe eher unverdächtig sind. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) etwa bezeichnete das bestehende System als „nicht mehr zeitgemäß” und die Bertelsmann Stiftung rechnete kürzlich vor, wie gesetzlich Versicherte von einer Zusammenführung der beiden Systeme profitieren würden.

Insgesamt fällt das Urteil über die gesundheitliche Verfassung des deutschen Gesundheitssystems also eher gemischt aus. Fast 150 Jahre nach Einführung der Krankenversicherung ist noch immer offen, wer und was damit erreicht werden kann.



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