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Schwäbisch für Anfänger

Von Christina Mikalo / 15. Mai 2019
picture alliance / imageBROKER | Fabian von Poser

Umzüge bringen Veränderung in vielerlei Hinsicht. Wer in eine neue Region zieht, stolpert manchmal über fremde Traditionen und Bräuche – bevor er lernt, sie zu lieben.

Chaos. Um mich herum herrscht das pure Chaos.

Konfetti fliegt, Fanfaren schmettern und durch die Straßen hüpfen Hexen. Also Menschen in Hexenkostümen, aber trotzdem. Es ist Fastnacht, oder „Fasnet“, wie es in Oberschwaben heißt.

Und mittendrin im Getümmel: ich. Ich, wie ich einen Kulturschock erlebe. Ursprünglich komme ich nämlich nicht aus Süddeutschland. Geboren bin ich in Hannover, habe in der Nähe von Hamburg studiert und denke beim Wort „Tradition“ an die Hanse und Fischbrötchen.

Fastnacht war für mich in meiner niedersächsischen Heimat ähnlich weit entfernt wie das Kirschblütenfest in Japan. Ich wusste, dass es existiert, fand es aber zu exotisch, um mich näher damit zu befassen. Wenn das Fernsehen Karnevalsfeiern übertrug, schaltete ich weg.

Jetzt aber lebe ich seit einigen Monaten in einer Hochburg der Fastnacht, und wegschalten ist nicht möglich. Der schwäbische-alemannische Heimatsender läuft in Dauerschleife, und ich bin auch als Zuschauerin manchmal nicht nur zwangsläufig dabei, sondern mittendrin.

Holpriger Start als „Reig’schmeckte“

In den ersten Wochen komme ich meiner neuen Heimat nicht näher. Norddeutschland, so bemerkte mein Chef einmal, würde für ihn in Frankfurt am Main beginnen. In ähnlicher Weise wusste ich vor meinem Umzug kaum etwas über Süddeutschland, von den üblichen Klischees – die berühmte schwäbische Sparsamkeit zum Beispiel – einmal abgesehen. Dennoch entschied ich mich, an den Bodensee zu ziehen. Neben einem attraktiven Arbeitsplatz zog mich auch die Landschaft an. Bedenken hinsichtlich Dialekt und Mentalität wischte ich beiseite. So anders würde es schon nicht sein – Deutschland ist schließlich Deutschland, oder?

Ja und nein. Unter Gleichaltrigen merke ich tatsächlich kaum einen Unterschied. Wir teilen die gleichen Interessen (Studium, Auslandsreisen, Harry Potter) und Hobbys, der Dialekt ist ebenfalls kein Problem, denn die meisten jungen Leute sprechen Hochdeutsch. Was mir entgegenkommt, denn ich schwätze kein Schwäbisch. Als Zugezogene, also Reig’schmeckte, wie man hier sagt, gelingt das auch kaum.

Schwieriger ist es mit der älteren Generation. Nicht nur habe ich wegen des Schwäbischen zum Teil Verständnisprobleme, auch manche Bräuche und Traditionen sind mir völlig fremd. In der Adventszeit stellen viele Schwaben Krippen in ihren Wohnzimmern auf und die Geschenke bringt das Christkind, nicht wie in Norddeutschland der Weihnachtsmann.

Bräuche verbinden und schließen zugleich aus

„Bräuche schaffen Identität und stiften Gemeinschaft“, konstatiert Werner Mezger, Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Freiburg, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Im Umkehrschluss heißt das: Sie schließen auch aus. Wer „Vesper“ für ein motorisiertes Zweirad hält und mit dem „Narrensprung“ nichts anfangen kann, der ist kein Teil der schwäbischen Gemeinschaft.

Nirgends macht sich das so sehr bemerkbar, wie bei der Fasnet. Das Fest ist gewissermaßen die Königsdisziplin der schwäbischen Kultur. Hier offenbart sich, wer echter Schwabe oder eben bloß zugezogen ist. Wer dazuzugehören will, sollte sich auch verkleiden und an den Umzügen teilnehmen.

Ich tue das während meiner ersten Fasnet nicht. Teils aus Unwissen, teils weil ich mit dem Brauch fremdele. Während rings um mich Lautstärke und Alkoholpegel steigen, tue ich mich schwer damit, den eigentlichen Reiz der Festivität zu erfassen.

Was mich allerdings beeindruckt oder: mitreißt, ist die Begeisterung derjenigen, die Fasnet feiern. Die Kostüme sind teilweise so aufwendig verziert, dass ihre Herstellung sicherlich Wochen gedauert hat. Und zu erleben, wie jeder seinen Alltag links liegen lässt, um mit den anderen zu feiern, ist schlichtweg genial.

Doch noch auf dem Weg zur Schwäbin?

Die Fasnet ist auch heute noch ungebrochen beliebt. Die Journalistin Hildegard Knoop hat seit 1990 tausend neugegründete Narrenzünfte gezählt. Mezger sieht darin ein zunehmendes Bedürfnis der Menschen nach festen Bräuchen in Zeiten der Globalisierung.

Während sich die Welt immer schneller zu drehen scheint, homogener wie auch anonymer wird, bieten Bräuche einen verlässlichen Anker. Die Narren kennen sich untereinander, sie schaffen gemeinsame Erinnerungen und Momente, die nur ihnen gehören. Naja fast. Die schwäbisch-alemannische Fasnet wurde 2014 Teil des bundesweiten Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen, das auch an das entsprechende UNESCO-Programm anlehnt.

Dem als Außenstehende beizuwohnen, ist allein schon faszinierend. Wie wäre es dann erst, Teil der Gemeinschaft zu sein?

Ehe ich mich versehe, habe ich einen Krapfen in der Hand und lobe das Kostüm eines Narren. Klar: Das macht mich noch lange nicht zur Schwäbin. Aber es ist vielleicht der erste Schritt auf dem Weg zu so etwas Ähnlichem. Als Zugezogene werde ich nie ein vollwertiger Teil der Gemeinschaft sein – dazu fehlt mir allein schon ein tieferes Wissen über die Bräuche und Traditionen. Doch eine Außenstehende muss ich ja auch nicht zwangsläufig bleiben.

Wer sich mit Bräuchen befasst, lernt irgendwann, sie zu verstehen. Und ab da ist es nicht mehr weit bis zu ihrer Wertschätzung.

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