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Solidarische Stimmung für demokratische Zustände

Von Zita Hille / 7. April 2021
picture alliance / kallejipp/Shotshop | kallejipp

Wählen oder nicht wählen – das ist im Superwahljahr die Frage. Doch auch im Jahr 2021 zeichnet sich eine niedrige Wahlbeteiligung ab. Was aber wäre, wenn das Wählen in Deutschland zukünftig zur Pflicht würde?

An einem schönen Sommertag vor Corona traf ich mich mit drei meiner besten Freundinnen. Wir wollten uns bei unserer Lieblingspizzeria aus Schulzeiten etwas gönnen und es uns auf einer Wiese damit gemütlich machen. Wir studierten die Speisekarte: Wer will was essen? Pizza? Pasta? Isst jeder sein eigenes Essen? Oder bestellen wir so, dass wir teilen können? In dem Hin und Her merkten wir gar nicht, dass eine Viertelstunde verstrich, dann noch eine und nach einer weiteren, als wir uns endlich einigen konnten, war plötzlich die Tür geschlossen: Mittagspause. Für drei Stunden.

Gerade wenn es um’s Essen geht, fällt es uns Vieren besonders schwer, uns schnell zu einigen. Aber um Entscheidungen und eben auch Kompromisse kommt man als Erwachsene*r nicht herum, schon gar nicht, wenn man selbstständig leben und auf eigenen Beinen stehen möchte. Und was allen Entscheidungen gemein ist: Keine bleibt folgenlos. Selbst Situationen, in denen man jegliche Festlegung vermeiden will, haben oft Konsequenzen. Daraus folgt, wer beispielsweise in der Politik sein Wahlrecht nicht ausüben will, nimmt trotzdem Einfluss auf den Ausgang des Wahlergebnisses. Gut so?

Derartige Fragen werden innerhalb der Wissenschaft der Entscheidungspsychologie behandelt. Gemäß dieser normativen Entscheidungstheorie wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch rational abwägt, welche Wahl getroffen werden soll. Abgewogen werden Argumente, die für die verschiedenen Entscheidungsoptionen sprechen. Jedoch handeln Menschen nicht ausschließlich auf Basis rationaler Entscheidungen. Etwa beim Pizzabeispiel mit meinen Freundinnen und mir wird deutlich: Neben der uns beeinflussenden Nostalgie spielten nicht nur Preis, Leistung und Hunger eine Rolle, sondern auch momentane Gelüste, individueller Geschmack und was jeweils am bekömmlichsten sein würde. Situativ wird also keinesfalls immer nur eine reine Kosten-Nutzen-Abwägung getroffen, sondern es geht ebenso sehr bei der Entscheidungsfindung um Emotion und Intuition – und um das, was einem das Bauchgefühl sagt.

Individuum nicht gegen die Masse abwägen

Die Entscheidung, an einer demokratischen Wahl teilzuhaben – oder eben nicht –, scheint ebenfalls zunächst eine Frage der Abwägung zu sein.

Meine Stimme zählt eh kaum, im Vergleich zu all den Millionen anderen.“

Auf einen Wähler mehr oder weniger kommt es ja echt nicht an.“

Ausgerechnet während Corona wählen zu gehen ist doch eh doof – und es regnet auch noch!“

Tatsächlich äußerten sich Leute aus meinem Umfeld so oder so ähnlich vor den hessischen Kommunalwahlen am 14. März. Aber haben sie damit recht? Abgesehen von den die Umstände betreffenden Ausreden: Darf man wirklich seine Stimme gegen eine ganze Masse abwägen?

Ich finde: nein. Denn ich glaube, dass man sich niemals als Individuum zu einer Masse von unterschiedlichen Menschen in Bezug setzen kann. Einen einzelnen Menschen kann man im Grunde nur mit einem anderen einzelnen Menschen vergleichen. Was wäre, wenn man aus der Masse einfach mal eine einzige Person herauspickt – und dann abwägt? Wenn dieser eine Mensch sich dazu entschlösse, eine rechtsextreme Partei wählen zu gehen, die so gar nicht meine Vorstellungen vertritt, wäre wiederum nur der Akt des Wählens meine Chance, mit meiner Stimme den demokratischen „Ausgleich“ zu schaffen. Diese Erkenntnis ist wichtig, um zu verstehen, dass es falsch bleibt zu denken: Wenn (nur) ich etwas ändere, bringt es im Großen und Ganzen ja doch nichts. Eine solche Haltung entbehrt jeder Solidarität gegenüber den eigenen Mitbürger*innen und dem Land, in dem man lebt. Das gilt auch für konsequenten Umweltschutz, um nur ein Beispiel zu nennen. Wie dieser am ehesten gelingt, darüber kann man streiten, das kann man sich gegenseitig zeigen, einander überzeugen. Auch das gehört zu der vielbeschworenen Solidarität in einem demokratischen Staat dazu: Ein Wettbewerb um das bessere Argument. Aber auch der Zwang zu argumentieren.

Solidarität schmackhaft machen – aber wie?

Deshalb habe ich in den letzten Wochen viel darüber nachgedacht, was ich von einer Wahlpflicht ab 18 Jahren halten würde und ob das wiederum für oder gegen den herrschenden Demokratiegedanken in der Bundesrepublik Deutschland spricht. Was würde ein solcher Zustand für die Qualität der hier aufgebauten demokratischen Strukturen bedeuten?

Grundsätzlich finde ich die Idee gar nicht schlecht: Solidarisches Handeln als Pflicht und wer das nicht möchte, müsste aktiv widersprechen und sich damit wenigstens offenbaren. Vorbildhaft hierfür könnte die Diskussion über das Tragen eines Organspendeausweises sein. Für mich eine durchaus akzeptable Form der Verpflichtung.

Für mich steht fest: Im Fall der politischen Wahlpflicht gäbe es bestimmt eine weitaus höhere Wahlbeteiligung. Ich vermute nämlich, dass viele Menschen oft nur aus den banalsten Gründen nicht wählen gehen: Wetter, momentane Befindlichkeiten oder eben, weil man sich seiner Verantwortung nicht bewusst ist.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn eine solche Pflicht – wie ich leider zugeben muss – widerspricht dem grundlegenden, allzu demokratischen Urgedanken von freien Wahlen. Die Entscheidungsfreiheit, aber auch die Freiwilligkeit, wählen zu gehen, ist ein Gut, das man nicht einfach so auf’s Spiel setzen sollte. Mehr Solidarität wäre, ganz ohne Frage, zwar wünschenswert, müsste aber den Bürger*innen gleichzeitig auch auf neuen Wegen schmackhafter gemacht werden. Sonst ist es vielleicht bald dafür zu spät.

8 Antworten auf „Solidarische Stimmung für demokratische Zustände“

  1. Von Ilonka am 8. April 2021

    Sehr inspirierender Artikel. Mir gefällt der Gedanke des Vergleichens mit einer Person aus der Masse und nicht mit der gesamten Masse an sich. Jeder sollte sich darüber mal Gedanken machen _ und das nicht nur im Bezug auf Wahlen.

    1. Von Zita am 13. April 2021

      Vielen Dank! Und ja, absolut – das Prinzip kann man genauso auf viele Lebensbereiche anwenden: Umweltbewusstsein, Verantwortung für Familienmitglieder, Verhältnisse im Job.. Oft ist der effektivste Weg nicht der Bequemste – doch meist lohnt er sich dann doch am Meisten, auch fürs eigene Lebensgefühl. 🙂

  2. Von JK am 8. April 2021

    Sehr treffend! Gerade der Gedanke zur Abgrenzung des Individuums zur Masse finde ich sehr interessant – obwohl er logisch und nicht neu ist, werden oft unterbewusst Wege oder Ausreden gesucht, um sich somit von gewissen Verantwortungen freisprechen zu können. Dabei sind wir die „Masse“ – die entscheidet.

    1. Von Zita am 13. April 2021

      Absolut! Damit nutzen wir unser Recht & stehen zu dieser Verantwortung. Aber trotz allem: die Freiwilligkeit sollte und muss (wenn auch leider :D) gegeben sein. Danke für Deinen Kommentar! 🙂

  3. Von KS am 8. April 2021

    Das Solidaritätsargument würde ich so nicht unterschreiben, da es mMn weniger darum gehen muss „falsche“ Stimmen auszugleichen als um das Privileg jemanden auswählen zu dürfen der einen selbst am besten vertritt. Wenn man sich nicht politisch engagiert ist das schon der Mindestbeitrag für eine funktionierende Demokratie und als Teilnehmer dieser.

    Bezogen auf das Beispiel ist hier glaube ich eher die Speisekarte das Problem. Wenn neben der Pizza, die einem nach 16 Jahren schon zum Hals raushängt, die anderen Alternativen noch deutlich weniger Appetit aufs (Aus)Wählen machen, wird es halt wieder die Pizza – oder man bleibt daheim ohne die Wahl im Lokal.

    1. Von Zita am 13. April 2021

      Guter Punkt! 🙂

      & glaub mir, diese Pizzeria würde Dein Leben verändern 😋

  4. Von Daniel am 9. April 2021

    Gut geschriebener Artikel 👍

    1. Von Zita am 13. April 2021

      Vielen lieben Dank! 🙂

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