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Unter den Teppich: Tabus und was sie anrichten können

Von John Kazadi / 14. Februar 2024
picture alliance / Westend61 | Ok Shu

“Tabu” ist so ein einfaches Wort – und doch kann es so viel menschliches Leid und gesellschaftlichen Schaden anrichten.

Wann war für dich schon einmal etwas tabu? Als Erstes denkst du wahrscheinlich an etwas, was du gerne haben oder tun wolltest, aber die Erwartungen und Ansichten der Gesellschaft haben dich davon abgehalten. Gesellschaftliche Tabus haben die Macht, Menschen großes Leid zuzufügen. Tabus machen uns krank und schränken unsere Ausdrucksfreiheit ein. Und das Schlimmste ist: Sie führen dazu, dass uns Rechte vorenthalten werden.

Wer über Tabus redet, muss auch darüber reden, was ihre Funktion ist: Sie dienen dazu, bestimmten Menschen vorteilhafte Positionen zu verschaffen, während andere benachteiligt werden. Meist speisen sie sich aus traditionellen oder kulturellen Ansichten und religiösen Auffassungen. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, stellen sich mir gleich mehrere Fragen. Die verwirrendste ist: Warum halten so viele Menschen aller möglichen kulturellen Hintergründe an Praktiken und Normen fest, die so viel menschliches Leid anrichten? Warum sehen sie nicht, welche Gefahren damit einhergehen – zum Beispiel die der Selbstverleugnung?

Die Antwort ist, dass Tabus nicht nur Gefahren bergen, sondern auch Menschen zusammenbringen. Tabus stiften Identität für Gruppen, Ethnien, sogar Religionsgemeinschaften. Ein Beispiel ist die genitale Beschneidung, die außerhalb der Gruppen, die sie praktizieren, als Genitalverstümmlung gilt.

Tabus in afrikanischen Gemeinschaften

Eins der größten Themen in afrikanischen Gemeinschaften ist das der sexuellen Orientierung. Eigentlich geht es nur darum, zu wem sich ein Mensch hingezogen fühlt. Dennoch wird das Thema LGBTQ heiß debattiert. Dort, wo ich lebe, finden die meisten Menschen Homosexualität inakzeptabel. Deshalb ist es sowohl Männern als auch Frauen verboten, sich zu einer Person des gleichen Geschlechts sexuell hingezogen zu fühlen. Warum? Ist Homosexualität etwas Schlimmes? Ich denke, dass wir Menschen das Recht haben, unser Leben so zu leben, wie es für uns am besten ist. So denken aber nicht alle Menschen. Selbst heute haben queere Menschen dort, wo ich lebe, nicht dieselben Freiheiten wie heterosexuelle. Sie leben in der Angst, gemobbt oder sogar körperlich angegriffen zu werden. Viele verbergen deshalb vor anderen, wer sie wirklich sind, und geben es oft nicht einmal sich selbst gegenüber zu.

In den meisten afrikanischen Gemeinschaften werden auch alte Menschen Opfer von Tabus. Manche beschuldigen ältere Menschen der Hexerei. Ich habe das selbst gegenüber einer alten Frau einmal mitbekommen. Sollten Menschen sich im Alter so unsicher fühlen müssen? Die Frau wurde so sehr isoliert, dass sie alle menschlichen Kontakte verlor. Sie wurde in ihrer Gemeinschaft gemobbt, bis eine Organisatin ihr half und ihr eine Wohnung in einem Seniorenheim besorgte. Es ist eine Schande, dass manche Menschen nicht anerkennen, dass das ganze Leben eigentlich nur aus Wachstum besteht, sondern stattdessen bereitwillig sogar ältere Menschen ausgrenzen und quälen. Wenn alte Menschen nicht alleingelassen werden, sobald sie ein bestimmtes Alter erreichen, wenn man sich um sie kümmert und ihnen Liebe zeigt, dann würden sie sicher nicht mehr beschimpft werden, und unsere Gesellschaft wäre ein besserer Ort für alle – egal, wie alt wir sind.

Und es geht ja noch weiter. Bei den Luba (Volksgruppe im Kongo – d. Red.) gilt es zum Beispiel als gesetzt, dass ein Mann immer einer Frau überlegen ist. Ein Mann darf keine Hausarbeiten verrichten oder Wäsche machen. Das ist die Aufgabe der Frau. Diese Rollenverteilung sagt aus, dass Frauen nicht mehr sind als die Dienerinnen ihrer Ehemänner. Ich finde, dass ein Haushalt eine gemeinsame Aufgabe ist und dass man sich in einer Partnerschaft in allen Dingen, die das Zuhause betreffen, gegenseitig unterstützt. Ich finde es verstörend, dass Frauen Männern unterlegen sein sollen und dass sie noch nicht einmal zu Hause etwas zu sagen haben.

Tabus abbauen, um stärkere Gemeinschaften aufzubauen

Tabus haben schon immer das Zusammenleben strukturiert. Sie haben aber auch schon immer viele Stimmen zum Schweigen gebracht, Träume und Lebenswege zerstört. Das Beste ist also, diese destruktiven Traditionen zu hinterfragen und abzuschaffen. Aber wie schaffen wir etwas ab, das schon seit so langer Zeit ein Teil unseres Lebens ist?

Ich denke, Tabus existieren heute nur noch, weil es zu wenig Zugang zu politischer Bildung gibt. Die Welt kann ein friedlicher Ort für uns alle sein, wenn wir es schaffen, Meinungen zu überwinden, die andere herabsetzen und diskriminieren und junge Menschen in die Depression treiben. Sicher können administrative und gesetzgeberische Maßnahmen hier helfen. Aber auch Geschichten, Podcasts, sogar Radioprogramme können die öffentliche Meinung so beeinflussen, dass sie zur Überwindung dieser veralteten Praktiken und Auffassungen beitragen.

Natürlich fühlen Menschen sich in ihren kulturellen Auffassungen und Praktiken zu Hause. Aber sollten diese Normen und Einstellungen nicht fair und gerecht gegenüber allen sein? Ich glaube daran, dass man alles, was man einmal gelernt hat, auch wieder verlernen kann – aber nur, wenn wir bereit sind, Veränderungen zuzulassen, uns von alten Auffassungen zu verabschieden und schädliches Verhalten abzustellen. Tabus spielen in afrikanischen Gemeinschaften eine große Rolle bei der Fortschreibung von Ungerechtigkeit, Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und Geschlechtertrennung.

Sich der herrschenden Meinung entgegenzustellen, erfordert Mut. Bei den Kasai (Volksgruppe in der gleichnamigen Provinz in der Demokratischen Republik Kongo – d. Red.) hieß es immer, dass Kasai-Männer nur Kasai-Frauen heiraten dürfen, da eine stammesübergreifende Ehe nicht halten würde. Die Behauptung steht seit vielen Jahren im Raum. Erst jetzt wird sie durch die junge Generation in Frage gestellt – mit Erfolg: Es gibt mittlerweile viele glückliche Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Stämme.

(Übersetzung von Bianca Walther, hier das englische Original dieses Beitrags)

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