Vorhang auf!
Corona? Kann dem Kino nichts mehr anhaben, scheint es. Die Berlinale findet 2022 wieder statt! Für sagwas sind drei Reporter_innen mit dabei. Sie berichten wenige Stunden vor Beginn des weltgrößten Kino-Publikumsfestivals, was sie sich von diesem erwarten.
Endlich wieder körperlich sein, eintauchen in eine andere Welt, das Drumherum ausblenden. Wo, wenn nicht in einem Kinosessel gelingt das besser? Auf die große Leinwand mussten wir in dieser Pandemie immer wieder verzichten. Dauerhaft in den Genuss einer dritten Dimension kam im eigenen Wohnzimmer nur, wer über einen 3-D-Monsterfernseher verfügte.
Der Unterschied zum Kino aber bleibt selbst dann bestehen: Dorthin zu gehen ist ein Ereignis für sich. Im Fall der Berlinale: ein regelrechtes Spektakel. Binge Watching zuhause, eine Art Serienmarathon auf dem Sofa, wie ihn viele während des Lockdowns zunächst zelebriert hatten, kann dagegen nicht annähernd so eindrucksvoll vonstatten gehen. Von der “richtigen“ Filmwahl ganz zu schweigen.
Es gibt sicherlich angenehmere Aufgaben, als in diesen Zeiten internationale Produktionen im Festivalrahmen zu zeigen. Nichtsdestotrotz hat sich die Hartnäckigkeit des Organisationsteams gelohnt. Jetzt ist es soweit: Der Countdown läuft. Nur wenige Stunden bleiben, bevor die traditionellen Berliner Filmfestspiele beginnen. Vorab wollen wir wissen, was unsere drei sagwas-Reporter_innen sich von der Veranstaltung versprechen und welche Überlegungen sie dazu im Vorfeld umtreiben.
Auf dem Gipfel einer weiteren Welle der Pandemie findet die Berlinale 2022 statt. Inklusive Publikum, Filmcrews, Kontrollpersonal. Hinzu kommen Berichterstatter_innen wie ihr. Rechtfertigt der Wunsch nach Teilhabe an Kultur das alles?
Vera Keddigkeit: Ich sehe dem Ganzen einerseits ein wenig kritisch entgegen. Den Hörsaal meiner Uni darf ich noch nicht wieder besuchen, dafür aber zu einem internationalen Filmfestival nach Berlin reisen. Ein mulmiges Bauchgefühl hat man da auf jeden Fall. Aber irgendwann muss es weitergehen. Ich vertraue dem Hygienekonzept der Berlinale und werde selbst auf Abstände achten und ständig meine FFP2-Maske tragen. Gerade die junge Generation von Studierenden und Schüler_innen leidet besonders unter den Versäumnissen durch die Pandemie. Für mich ist die Berlinale ein Lichtblick. Endlich mal den Computer mit den Online-Vorlesungen ausschalten und einen Tapetenwechsel erleben. Es macht etwas mit dem Lebensgefühl. Man sollte schließlich die mentale Gesundheit nicht vergessen.
Lucca Pizzato: Kultur ist das Rückgrat der Gesellschaft. Also essenziell für Teilhabe und politisches Bewusstsein. Ob das eine Massenveranstaltung wie die Berlinale in Zeiten einer Pandemie rechtfertigt, kann ich nicht beurteilen. Die Risikoabwägung muss die Politik im Dialog mit der Wissenschaft treffen. Wer bei so einer Diskussion häufig vergessen wird, sind die Kunstschaffenden. Für Independent-Filmemacher_innen ist die Beteiligung an Filmfestivals das auschlaggebende Kapital, um im harten Filmgeschäft Fuß fassen zu können. Selbstständige Künstler_innen waren und sind in Deutschland eine der am meisten vernachlässigten Berufsgruppen während der Pandemie. Für sie sind Filmfestivals ökonomisch also tatsächlich lebensnotwendig.
Sophia Hörhold: Wenn es eine Branche gibt, die unter Corona besonders gelitten hat und das stellenweise nahezu bis zum Verschwinden, dann ist das die Kulturbranche. So viele Bereiche in der Wirtschaft funktionieren unter den Einschränkungen schon wieder nahezu “normal“, es ist wirklich an der Zeit, Kultur wieder vollumfänglich möglich zu machen. Solange wir jeden Tag in vollen Kneipen stehen, dicht gedrängt im Flieger sitzen oder in die Therme gehen können, sollte Kultur auch möglich sein.
Die Hälfte der Filme beschäftigt sich mit dem Thema “Familie“. Zwei der 18 Wettbewerbsfilme nehmen die Pandemie in den Fokus. Und noch nie gab es so viele Liebesfilme wie dieses Jahr. Welche Schlüsse zieht ihr aus dieser Beobachtung?
Lucca Pizzato: Es handelt sich um Themen, die durch die Pandemie besonderes Augenmerk genossen haben. Eltern im Home-Office, die sich wegen der Schließung von Schulen und Kitas während der Arbeit um die Erziehung und Bildung der Kinder kümmern müssen. Vereinsamende Menschen in Isolation, die sich durch diverse Dating-Apps digital Nähe suchen. Ich bin etwas skeptisch über diesen Fokus auf eher private Themen. „Das Private ist politisch“, hieß das Motto der Berlinale 2019. Durch den medialen Fokus auf Corona haben andere internationale politische Themen stark an Aufmerksamkeit eingebüßt. Das macht sich im Programm bemerkbar. 2020 gewann mit „There is No Evil“ von Mohammad Rasulof ein Film über die Todesstrafe im Iran den Goldenen Bären und 2019 „Synonymes“ von Nadav Lapid über einen jungen Israeli, der in Paris zwischen Zugehörigkeit, Antisemitismus und Traumabewältigung mäandert. Ich hoffe, diese Berlinale wird trotz Pandemie ihrem hohen politischen Anspruch gerecht.
Sophia Hörhold: Die Pandemie hat die Menschen einsam gemacht. Das Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung ist so groß wie nie. Das zeigt sich natürlich auch in den Themen, die die Filmschaffenden in ihren Werken verarbeiten. Für mich zeigt das in erster Linie, wie aktuell der Stoff der Filme ist, die bei der Berlinale zu sehen sind.
Vera Keddigkeit: Familie, Liebe und die damit einhergehende Nähe ist etwas, auf das wir alle teilweise immer noch verzichten müssen. Dass die Pandemie für die Handlung kaum eine Rolle spielt, unterstreicht den Wunsch, eine (zumindest auf die Pandemie bezogen) perfekte Welt darzustellen, zu der wir alle gerne zurück möchten. Die Filme bieten etwas, an dem man sich festhalten kann. Gerade Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist es während der Pandemie schwer gemacht worden, sich zu verlieben. Vielleicht wollen sie das wenigstens im Film erleben.
Sieben der 18 Filme stammen von Regisseurinnen. Ist das aus eurer Sicht im Vergleich zu anderen Filmfestspielen eine (ausreichend) gute Quote anno 2022?
Sophia Hörhold: Das entspricht einer Quote von rund 39 Prozent und ist damit absolut nicht ausreichend für ein Filmfestival 2022! Klar, Film ist immer noch eine Männerdomäne. Aber gerade weil die Pandemie einen Rückschritt in Sachen Gleichberechtigung von Mann und Frau zur Folge hat, wäre es hier wünschenswert gewesen, im Rahmen der Berlinale die Muster zu brechen und sich dahingehend fortschrittlicher zu positionieren.
Vera Keddigkeit: Wir leben in einer Gesellschaft mit patriarchalen Strukturen. Natürlich wirkt sich das auf die Filmindustrie aus. Aber dass beinahe die Hälfte der Filme bei der Berlinale von Frauen stammen, finde ich beachtlich. Im internationalen Vergleich ist die Geschlechterquote eine ganze Menge. In Cannes standen lediglich hinter vier von 24 Filmproduktionen Regisseurinnen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich mit Blick auf die Filmbranche eher an Kameramänner denke und ebenso an Regisseure.
Lucca Pizzato: Klar, die Zahlen sind besser als in den Vorjahren und im Vergleich zu anderen großen Festivals. Aber hey, mit der Streichung von Paragraph 219a ist die Situation von Frauen hierzulande doch auch besser als vorher und gemessen an Polen sowieso. Vergleiche sind kein Maßstab für das Prädikat ‚gut‘ oder ‚ausreichend‘. Die Berlinale hat jedes Jahr eine solide Datenauswertung der Geschlechterverhältnisse. Mein Appell an die Festivalleitung daher: Nehmt euch diese doch auch mal zu Herzen und macht’s wirklich besser. Gebt bitte endlich nicht-männlichen Personen mehr Leinwand.