X Icon Facebook Icon

„Wir beuten die Welt überall aus“

Von Christa Roth / 25. September 2019
Credits: Uwe H. Martin;

Er ist preisgekrönter Fotojournalist und Filmemacher und sucht seit Jahren weltweit nach immer neuen Geschichten. Doch Uwe H. Martins Arbeit zeugt vor allem von der enormen Ausdauer und Energie, die der Hamburger jahrelang in einzelne Projekte steckt.

Freier Fotograf oder Multimedia-Produzent beschreibt ihn gut, am liebsten aber bezeichnet sich Uwe H. Martin als “slow journalist“. Über die Umweltkatastrophe, die der zentralasiatische Aralsee – der ehemals viertgrößte See der Welt – darstellt, hat er erstmals 2007 berichtet. Wer seinem Instagram-Account folgt, wird allerdings auch heute noch an das Schicksal der Bewohner erinnert. Allen anderen vermittelt die nachfolgende Bilderstrecke einen kleinen Eindruck von Martins intensiver Recherche vor Ort. Im Interview berichtet der Hamburger außerdem über die Voraussetzungen seiner Arbeit und warum Langsamkeit unterschätzt wird.

Der Aralsee war früher für sein klares Wasser und mildes Klima bekannt. Er war von dichtem Reisig und Sumpf umgeben, bot ein vielfältiges Ökosystem, zu dem Flamingos und der Turan-Tiger gehörten. Das Wasser bot Lebensraum für etwa 40 Fischarten und versorgte eine Fischereiflotte, die jährlich 50.000 t Fisch produzierte und die gesamte Sowjetunion belieferte. Dann sahen Joseph Stalins „Great Plan for the Transformation of Nature“ und Nikita Chruschtschows „Virgin Lands Campaign“ vor, die zentralasiatische Trockensteppe in eine Oase zu verwandeln, in der Reis, Melonen, Getreide und vor allem Baumwolle wachsen sollten. 1954 begann der Bau des Karakum-Kanals, der das Wasser aus dem Amudarya-Fluss nach Turkmenistan lenkte. Bis 1960 wurden jedes Jahr zwischen 20 und 60 km3 Wasser zur Bewässerung der Baumwolle – des „Weißen Goldes“ – entnommen. Der Aralsee begann zu schrumpfen. Mit abnehmendem Wasserspiegel stiegen der Salzgehalt und die Toxizität. Das Ökosystem brach zusammen, Schiffe liefen auf Grund und die Fische begannen zu sterben. Der einstmals viertgrößte See der Erde zerfiel in zwei getrennte Salzseen, den Großen Aralsee im Süden und den Kleinen Aralsee im Norden.
Die Küste dessen, was vom Aralsee übrig ist, war einer der einsamsten Orte, die ich je besucht habe. Ich fuhr vom Plateau auf der südwestlichen Seite hinunter, als mir das intensive Blau des Wassers ins Auge stach. Der See schimmerte wie ein gigantischer Saphir in der flachen, salzhaltigen Ebene. Es war wunderschön. Und wegen seiner erstaunlichen Schönheit war das Gefühl von Verlust und Tragödie umso unerträglicher: Die Vereinten Nationen haben den Aralsee als die schlimmste vom Menschen verursachte Umweltkatastrophe der Geschichte bezeichnet. Sie schätzen, dass jährlich 100 Mio. Tonnen Salzstaub aus der neu gebildeten Aralkum-Wüste, die eine Fläche von der Größe der Niederlande einnimmt, aufgewirbelt werden. Die giftigen Stürme, die oft tagelang dauern, verschmutzen Luft, Wasser und Nahrung in der Region und führen zu einem hohen Auftreten von Tuberkulose, Anämie, verschiedenen Krebsarten, Leber- und Nierenerkrankungen sowie Geburts- und Gendefekten. Doch die Krise wirkt weit über die Region hinaus. Die Stürme tragen den Salzstaub Tausende von Kilometern nach Osten in die Berge des Pamir-Knotens. Das Salz beschleunigt das Abschmelzen der Gletscher, wodurch die gesamte Wasserversorgung Zentralasiens gefährdet wird. Außerdem konnten die Pestizide der Aral-Region im Blut der Pinguine der Antarktis nachgewiesen werden.
Ein Gemälde in der Lobby des Hotel Oybek, dem einzigen Hotel in Muynak, zeigt eine Szene vom ehemaligen Ufer des Aralsees. Muynak war früher ein berühmter Fischereihafen an der Südküste des Aralsees in Usbekistan. Zu ihrer Blütezeit beschäftigten die örtliche Konservenfabrik und die industrielle Fischereiflotte rund 30.000 Menschen. Fisch aus dem Aralsee wurde in der gesamten Sowjetunion verkauft. Als der Aralsee austrocknete, verloren zehntausende Fischer ihren Lebensunterhalt, die Boote strandeten in der neu entstandenen Wüste und die meisten Menschen zogen weg. Heute liegt Muynak etwa 200 km vom Ufer des weiter schrumpfenden Aralsees entfernt. Die verbleibenden Menschen leiden unter Arbeitslosigkeit, verschmutztem Wasser und giftigen Staubstürmen, die jedes Jahr über lange Zeiträume wüten.
Eine der bizarrsten Situationen meiner Recherche erlebte ich, als mich die Fischer der Maskat Brigade auf eine Hochzeit im Ort Bogen einluden. Als ich vor Ankunft der Gäste durch den Veranstaltungsort schlenderte, stolperte ich über zwei junge Fischer, die den Ehrenplatz schmückten, an dem bald die Braut und der Bräutigam sitzen würden. Sie benutzten Baumwolle, um die Namen des Brautpaares zu schreiben. Baumwolle, um ihnen Glück zu wünschen. Baumwolle zur Feier der Hochzeit. Dabei hatte Baumwolle ihre Stadt, ihr Leben, ihre Zukunft zerstört. Es war Baumwolle, die in den Steppen und Wüsten Zentralasiens angebaut wurde. Baumwolle, die so viel Wasser brauchte, dass sie die beiden mächtigen Flüsse, die den Aralsee speisen, erschöpfte. Baumwolle, die den See in die jüngste und giftigste Wüste der Welt verwandelte. Baumwolle, die die Fischereiindustrie zerstörte, von der die ganze Stadt abhängig war.
Balbike, die älteste Frau in Tastubek, Kasachstan, wurde Zeugin des Niedergangs ihres Dorfes, als der Aralsee austrocknete. Das Fischerdorf, etwa 90 km von Aralsk entfernt am Nordufer des Kleinen Aralsees gelegen, verlor in den 1970er und 80er Jahren fast alle Bewohner. Mitte der neunziger Jahre bauten Dorfbewohner einen kleinen Damm, um den Wasserspiegel dort zu stabilisieren. Der See erholte sich schnell, salztolerante Schwarzmeerflundern wurden ausgesetzt und 1996 versuchten die ersten Fischer ihr Glück. 1998 gab der provisorische Damm dem Druck des steigenden Aralsees nach und wurde weggespült. Schließlich stellte die Weltbank 85 Mio. Dollar zur Verfügung, um einen richtigen Damm an der Südgrenze des Nordbeckens zu bauen und Kanäle am Syr Darya-Fluss zu reparieren, um den Zufluss zu erhöhen. Nach der Fertigstellung des Kok-Aral-Damms im Jahr 2005 stieg der Wasserstand im Kleinen Aralsee innerhalb von sieben Monaten um mehr als 3,6 m und seine Oberfläche wuchs um rund 50 %. Der sich erholende See stabilisierte das lokale Klima und es entstand eine gesunde Nahrungskette. Mehr als 15 Fischarten, darunter Silberkarpfen, Hecht und Silberbarsch sowie Wels, Brasse und Rotauge sind heute im See zu finden. Auch die Menschen kehrten nach Tastubek zurück und die Fischereiproduktion des Kleinen Aral stieg von 600 t im Jahr 1996 gut zehn Jahre später auf über 7.000 t.

sagwas: Über das Austrocknen des Aralsees seit den 1960er Jahren wurde immer wieder berichtet. Was hat dich dazu gebracht, diese menschengemachte Naturkatastrophe als Grundlage für eine Fotoreportage auszuwählen?

Uwe H. Martin: Mich hat es während meines Fotostudiums immer wieder nach Bangladesch gezogen. Ich wollte meine Diplomarbeit 2005 über die dortige Textilindustrie machen, hatte aber nicht das Geld dazu. Da mich das Thema weiter beschäftigt hat, bin ich auf Baumwolle gekommen, den wichtigsten Stoff der Textilindustrie und der Industrialisierung. Baumwolle ist nicht nur in Kleidung und Hygieneprodukten, auch Geldscheine und Tierfutter und selbst Bratöl für Pommes basieren auf dieser Pflanze, die – in Monokulturen angebaut – extrem viel Wasser braucht. Aber in freuchten Gebieten war der Schädlingsbefall zu groß, also baute man Baumwolle in Trockengebieten an, wie in der Gegend des Aralsees. Dieser Aspekt, und die Zusammenarbeit mit dem Greenpeace-Magazin, haben mir ein paar Jahre später den Beginn meiner Recherche ermöglicht.

Deine Arbeit stellt sich häufig wie Kapitel einer größeren Erzählung dar. Was genau hat es damit auf sich?

Um Zusammenhänge in unserer immer komplexeren und komplizierten Welt abbilden zu können, muss man sie in ihrer Tiefe verstehen – und das ist, was Projekte wie LandRush zu erreichen versuchen. Ich wollte von vorneherein das Thema Baumwolle anhand des Wasserverbrauchs am Beispiel des Aralsees aufzeigen und anschließend die Privatisierung von Saatgut und deren Folgen am Beispiel Indien verdeutlichen. Dann sollte das Beispiel Texas die krasse, weltweite Subventionierung von Baumwollanbau darstellen. Diese Aufteilung spiegelt die verschiedenen Dimensionen des Themas wieder. Ich brauche auch viel Zeit, um Dinge zu begreifen. Ich fahre immer wieder an dieselben Orte, bleibe Monate lang, weil ich nur so wirklich lerne. Erfolg bedeutet für mich, wenn nach einer ausführlichen Recherche vorab mir am Ort selbst klar wird: Die Dinge liegen ganz anders. Dann kaue ich nicht wieder, was schon längst veröffentlicht ist. Das ist eines der größten Probleme der Medien, dass aufgrund des wirtschaftlichen Drucks, Geschichten am Schreibtisch bereits ihren Dreh bekommen und vor Ort kaum Zeit bleibt, neuen Fährten zu folgen. Den Syrienkonflikt anhand eines Jungen zu erklären, ist eine nette Idee, aber das Herunterbrechen auf diese engen Geschichten ist problematisch.

So ein Vorgehen entspricht nicht deiner Herangehensweise?

Eher nicht, nein. Ich sehe mich als “visuellen Anthropologen“, als “slow journalist“. Ähnlich der “slow food“-Bewegung. Sich mal bei McDonald’s einen Burger zu gönnen, ist zwar ok. Aber ganz klassisch einen Braten sechs Stunden lang im Ofen in Ruhe schmoren zu lassen, ist viel besser.

Was würde das im Hinblick auf den Aralsee bedeuten?

Gäbe es zum Beispiel ein Stipendium über Salzseen in der Welt, würde ich mich darauf bewerben. Immerhin hätte ich den Aralsee schon sowie den Saltonsee in Kalifornien und wäre dann bereit, mit einem dritten See einen neuen Blickwinkel anzugehen. Der Aralsee ist für mich [auf Instagram] jetzt wieder aktuell, weil ich gerade das Austrocken des Saltonsees dokumentiere und viel bereits gesammeltes Wissen für diese Recherche einsetzen kann. Und umgekehrt sehe ich nun den Aralsee teilweise mit anderen Augen, was ich dann in den Bildunterschriften festhalte. Die Situation ist im Großen und Ganzen aber heute noch die gleiche wie damals. Nur die Umstände im Norden für die neuen Fischer hat sich leicht verbessert.

Reizt es dich, wieder hinzufahren?

So gern ich auch wieder hinfahren würde, es geht mir nicht darum, die neuesten Bilder zu haben. Wichtiger wäre mir, dass in 50 Jahren jemand sagt, dank dieser Fotos verstehe ich die Herausforderungen, die wir mit der Landwirtschaft hatten. Denn das ist das für mich aktuell wichtigste Thema. Nichts Anderes, was Menschen kollektiv tun, beeinflusst den Planet derart. Ganze Gesellschaften und Kulturen sind zugrunde gegangen, weil ihre Art zu landwirtschaften dramatische Folgen für die Natur hatte. Andere konnten sich retten, indem sie woanders nach besseren Verhältnisse gesucht haben. Heute geht das nicht mehr so leicht, denn die Welt wird im Grunde überall ausgebeutet. Deshalb arbeite ich mich an diesem großem Thema ab.

Uwe H. Martin (Foto: Dennis Dimick)

Einerseits hat ein Journalist seine Unabhängigkeit zu wahren und unvoreingenommen zu sein, andererseits vertritt man oft zwangsläufig eine politische Perspektive. Geht dir das auch so?

Ich sehe mich nicht als politischen Aktivisten. Meine Position deckt sich mit dem wissenschaftlichen Konsens zum Thema, sofern der besteht. Ist der Klimawandel menschengemacht? Auf jeden Fall! Bei Gentechnik wird es schon komplizierter. Früher war ich dagegen, heute kritisiere ich vor allem die Art des Einsatzes… Natürlich habe ich als Journalist eine Haltung, gehe aber im Regelfall mit einem offenen Blick an die Sache ran, auch wenn in erster Linie eine enge Nähe zu den [porträtierten] Bauern besteht. Es geht ja darum, neue Informationen zu erhalten, zu lernen. Nicht, denen die Welt zu erklären. Da könnten viele von uns Journalisten ein wenig mehr Demut vertragen.

Du und deine Lebensgefährtin Frauke Huber seid auch beruflich Partner. Darüber hinaus arbeitest du in verschiedenen Formationen mit Kollegen zusammen. Welchen Vorteil bringt das?

In Kollektiven zu arbeiten ist oft besser, weil man sich gegenseitig unterstützen kann, intelligenter arbeiten. Deshalb haben wir RiffReporter mit gegründet, um Journalismus strukturell weiter zu denken. Das Kunstprojekt World of Matter hat Architekten, Rechercheure und viele weitere Berufe zusammengebracht. Wenn ich mir aber tatsächlich etwas wünschen dürfte, dann, dass freie Journalisten ein von Verlagshonoraren unabhängiges, kleines, aber sicheres Einkommen hätten, sodass sie mit ihren Kunden auf Augenhöhe wären. So müsste niemand wegen des ökonomischen Drucks ein unmoralische Angebot annehmen. Mit Protestieren allein kommt man langfristig in einem kapitalistischen System nicht weiter. Man braucht eine starke Verhandlungsposition und die hat man nur, wenn man Alternativen hat. Kollaborationen bieten diese. Eventuell.

Von vielen Journalisten wird erwartet, dass sie weit mehr mitbringen, als ihre Profession zu beherrschen, wie Vjs, die Kamera, Ton, Schnitt und redaktionellen Inhalt liefern müssen. Du bietest multimediales Storytelling in Fotoreportagen, aber auch Apps und sogar Ausstellungen. Ist dir das nicht selbst manchmal zu viel?

Ich empfinde hier keinen Druck, denn ich erzähle Geschichten einfach gern auf unterschiedliche mediale Weise, wenn ich glaube, dass sich einzelne Aspekte so besser vermitteln lassen. Einen wirklich guten Schreiber würde ich mich nicht nennen, denn ich bin kein Meister der Sprache. (lacht) Aber deswegen würde ich zum Beispiel ungern auf ein Interview mit einer indischen Bäuerin verzichten. Also habe ich angefangen zu filmen, damit ich sie direkt aufnehmen kann. Nur nehme ich mir halt immer die Zeit, die ich brauche, um die verschiedenen Medien in guter Qualität umzusetzen. Um aber Missverständnissen vorzubeugen: Ich verstehe anderer Leute Druck. Je mehr gemacht werden muss und je weniger Zeit zur Verfügung steht, umso schwächer wird das Ergebnis sein. Das lässt sich auch durch Teamarbeit nur teilweise kompensieren.

(Alle dargestellten Fotos sind Eigentum von Uwe H. Martin)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Ähnlicher Beitrag
Hintergrund

Ganz schön nass hier

Wasser ist für uns alle existenziell. Soviel ist klar. Aber im Grunde doch auch ein eher langweiliges Lebensmittel. Wie viel vermeintlich unnnützes Wissen darüber steckt in dir? …
Von / 18. September 2019
Neues Thema
Meist kommentierter Artikel