Wo das Leben sprießt
Auf einem ehemaligen Friedhof in Berlin gärtnern Geflüchtete und Einheimische. Dabei erfahren sie die heilsame Wirkung, die ein Integrationsprojekt haben kann.
Der Hauptweg, der durch den alten Friedhof Jerusalem V in Berlin-Neukölln führt, zieht sich. Rechts und links davon eine Vielzahl an Gräbern, in denen vor allem Familien ihre letzte Ruhe gefunden haben. Auf den ersten Blick nichts Verwunderliches. Doch in die 1870 angelegte Grabstätte der zugehörigen evangelischen Kirchengemeinde ist vor zwei Jahren auf einer 1.600 Quadratmeter großen Teilfläche mit einer Gärtnerei wieder Leben eingekehrt.
Ein dumpfes Hämmern begleitet das laute Surren einer Bohrmaschine. Farbenprächtige Blumen gedeihen in zahlreichen Beeten. Unter einer großen, zentral stehenden Linde sägen Menschen an Holzstücken. Der Garten, zu dem auch eine Werkstatt gehört, steht allen Interessierten offen.
Das zumindest gilt als Erfolgsrezept hinter dieser Kooperation des Berliner Kunst- und Kulturhauses Schlesische 27 und Raumlabor, einer Interessengemeinschaft aus Architekten, die den öffentlichen Raum umgestalten möchten. Zusammen haben sie diese besondere Gärtnerei im Mai 2015, sprich zu Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise in Deutschland, gegründet. Anwohner, Ehrenamtliche und Geflüchtete können hier nicht nur ihr Wissen und ihre Fertigkeiten in Sachen Natur und Baugeschick einbringen, sondern sich täglich gegenseitig immer besser kennenlernen und annähern.
Sinn in der Gemeinschaft finden
Neben Deutsch lernt eine feste Gruppe aus bis zu zwölf Geflüchteten gemeinsam mit anderen Aktiven alles rund um Landwirtschaft, Gartenanbau und Handwerk. Die Federführung des Konzepts liegt bei Sozialpädagogen, Künstlern und Gestaltern.
Projektkoordinator Sven Seeger ist eigentlich Choreograph. Als er aus der Werkstatt im ehemaligen Steinmetzhaus kommt, wo sich die Gartenschule befindet und Deutschvokabeln gepaukt werden, wischt er sich eine dicke Schmutzschicht von den Händen.
„Mit dem Garten und seiner Gestaltung wollten wir eine Plattform schaffen, auf der ein Austausch stattfindet und gegenseitiges Lernen geschieht“, sagt er.
Viele der Geflüchteten sind froh, ausgerechnet hier eine Beschäftigung für sich gefunden zu haben, während sie auf Reaktion der deutschen Behördenmitarbeiter warten. Was etliche Monate dauern kann. In der Zwischenzeit dürfen sie keine Lohnarbeit annehmen. „Im besten Fall können Geflüchtete die Wartezeit bis zur Genehmigung des Asylantrags überbrücken und einen Sinn in der Gemeinschaft – raus aus der Isolation – finden“, erklärt Seeger. Einige der Geflüchteten konnten bereits eine Ausbildung beginnen. Auch dank der Kenntnisse, die sie im Rahmen des Projektes erworben haben.
Wie der Garten aussehen soll, haben die Projektteilnehmer ausgiebig diskutiert: Warum Blumen pflanzen, die einfach nur schön aussehen, wenn Obst- und Gemüsepflanzen doch mit ihrer Ernte einen noch größeren Nutzen bringen? Nun also sprießen Wildblumen zwischen sorgsam gesetzten Nutzpflanzen hervor und verleihen dem Garten dadurch einen einzigartigen Charakter. Die vielseitige Mischung spiegelt sich auch in der interkulturellen Herkunft der Gärtner wider.
Rehabilitation durch Gartenarbeit
Projektteilnehmer Mohammed*, der ursprünglich aus einem afrikanischen Land kommt, stapelt Holzbretter für das Gewächshaus im Garten, dessen Fundament bereits steht.
„Jeder Idiot kann einen Garten anlegen“, sagt er. Darum alleine würde es bei dem Projekt nicht gehen. „Aber traumatisierte Geflüchtete wie meine Brüder aus Afrika kommen mit nichts hierher und sehen, dass sie aus dem Nichts all dieses erschaffen können. Dadurch können sie rehabilitiert werden.“
Auch Kazim ist dem Projekt sehr dankbar. Der Krieg in Syrien trieb ihn nach Deutschland. Wenn er spricht, sprudelt sein deutscher Wortschatz nur so aus ihm heraus. Fehlende Sprachkenntnisse gleicht er mit einem breiten Lächeln aus. „Ich brauche immer eine Aufgabe in meinem Leben“, sagt er. Im Garten scheint er sie vor mehr als einem Jahr gefunden zu haben. „Ich liebe es, hier zu arbeiten.“
Auch heute ist sein Wissen wieder gefragt. Das Licht an Claires Fahrrad funktioniert nicht. Kazim stellt den Drahtesel der Anwohnerin auf den Kopf, dreht wiederholt am Hinterrad, dann werkelt er los. Claire will sich erkenntlich zeigen, Kazim aber wiegelt ab: „Ich bin ein Freund, da gibt man kein Geld.“
Weiter hinten im Garten sägt Djamal* an einem Holzstück für das Archiv unter der großen Linde, ein neues Bauprojekt.
Der 19-Jährige aus Aleppo geht vormittags zum Deutschkurs der Bildungsmanufaktur, einem Projekt der Schlesische27, nachmittags werkelt er im Garten. „Das ist schön: Ich lerne Deutsch und kann arbeiten“, sagt er. Er hofft, mit diesen Erfahrungen leichter eine Lehrstelle zu finden.
Der außergewöhnliche Garten auf dem alten Friedhof ist längst nicht mehr nur eine Gärtnerei. Unter dem Namen Coop Campus entwickelt sich das Projekt immer weiter fort. Junge Forscher arbeiten an einem Eco-Pfad mit unterschiedlichen Installationen, bestehend aus einer Entdeckungsreise und einem Wissenspfad. Syrische Künstler haben eine Keramikwerkstatt ins Leben gerufen und das Kiezorchester „Rising Sun“ initiiert. So soll die Verbindung der Menschen zueinander weiter wachsen – genau wie die Pflanzenpracht im Garten.
*Name von der Redaktion geändert