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Zwischen Homo faber und Cyborg

Von Sven Drebes / 27. August 2018
picture alliance / 360-Berlin | 360-berlin/ Jens Knappe

Technische Hilfen ermöglichen Menschen mit Beeinträchtigungen oft Dinge, die ihnen andernfalls versperrt bliebe. Wird jedoch aus der bloßen Möglichkeit ein gesellschaftlicher Zwang, könnten jüngste technische Entwicklungen einige Menschen eher ausgrenzen als befähigen.

Wann wurden Sie zuletzt für eine Selbstverständlichkeit bewundert? Zum Beispiel für den korrekten Einsatz von alltäglichen Werkzeugen. Mir passiert derartiges häufiger, zuletzt erst vor ein paar Wochen. Und wahrscheinlich aus dem Grund heraus, da für mich solche Werkzeuge alltäglich sind, deren Nutzung sich die meisten Menschen nicht vorstellen können oder wollen. Wie das kommt? Ich bin ein „mobilitätseingeschränkter“ oder einfacher, aber ungenauer, „körperbehinderter“ Mensch. Konkret heißt das, dass ich mich in einem Elektrorollstuhl durch Wohnung, Stadt und Land bewege, meine Hände nur eingeschränkt einsetzbar sind und ich undeutlich spreche. Bewundert wird daher häufig, wie zielsicher ich meinen Elektrorollstuhl steuern kann, was mehr oder weniger eng mit meinen Beeinträchtigungen selbst zusammenhängt: Wer nicht laufen kann und seit Jahrzehnten einen Elektrorollstuhl nutzt, entwickelt halt meistens eine große Geschicklichkeit darin, sich damit tatsächlich fortzubewegen. Faszinierend, nicht wahr?

Faszinierend ist Technik allemal. Sie kann das Leben vieler nicht nur erleichtern, sie macht behinderten Menschen vieles überhaupt erst möglich. Die Möglichkeit, zu fahren statt zu gehen, ist für die meisten Menschen in erster Linie bequem. Für Menschen, die nicht gehen können, ist die Fortbewegung nur durch spezielle oder allgemein verfügbare Fahrzeuge – seien es Rollstühle, Roller, Fahrräder oder (angepasste) Autos – möglich. Ähnliches gilt für Spracheingabe- und -ausgabesoftware, SMS, E-Mail, Chat- und Messenger-Dienste. Sie eröffnen auch blinden, tauben, seh-, hör- oder sprechbeeinträchtigten Menschen einen Weg, direkt und ohne die Hilfe Dritter mit anderen zu kommunizieren, Texte zu lesen oder zu schreiben.

Hauptsache so unbeeinträchtigt wie möglich

Viele behinderte Menschen nutzen daher diese Hilfsmittel – zum Teil schon als Kind – gerne und selbstverständlich, und zwar in dem Maße, wie sie ihnen auch wirklich helfen; eine Frage übrigens, die jeder Mensch, ob behindert oder nicht, nur für sich selbst beantworten kann und sollte. So können Sprachausgabesysteme Leuten mit undeutlicher Aussprache die Kommunikation erleichtern. Wenn man aber wie ich recht langsam tippt, hält sich deren Nutzen in Grenzen. In derselben Zeit, in der ich einen Satz tippe, kann ich ihn drei bis fünf Mal (und zunehmend deutlicher) aussprechen, ohne dass der Gesprächsfluss mit meinem Gegenüber darunter sehr leiden würde.

Nicht beeinträchtigte Menschen beurteilen Hilfsmittel anders, nämlich vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen. Sie gewichten die Einschränkung oder das Fehlen von Fähigkeiten bzw. deren nur teilweisen Ausgleich sehr hoch. Die von beeinträchtigten Menschen selbst empfundene Lebenssituation blenden sie dabei weitgehend aus. Eine Folge davon ist, dass insbesondere solche Entwicklungen positiv bewertet werden, die das Leben beeinträchtigter Menschen so weit wie möglich dem Leben nicht beeinträchtigter angleichen.

Besser – aber für wen?

Das gilt erst recht für die jüngsten technischen Entwicklungen zum Ausgleich von körperlichen Einschränkungen. Sie werfen die Frage auf, ob sich das Zeitalter des Homo faber, also des Technik nutzenden Menschen, nicht dem Ende zuneigt und in das Zeitalter des Cyborg übergeht, in dem Mensch und Technik miteinander verschmelzen. Bereits seit einigen Jahren gibt es Hörgeräte, die den Menschen implantiert werden. Sogenannte Exoskelette, die auch gelähmten Menschen das Gehen ermöglichen sollen oder Elektrorollstühle und Computer, die über Sensoren durch Gehirnströme steuerbar sind, befinden sich in der Entwicklung oder Erprobung, sind aber meines Wissens noch nicht alltagstauglich.

All das scheint große Gewinne an Freiheit zu versprechen, kann aber auch ins Gegenteil umschlagen. So wehren sich beispielsweise viele taube Menschen gegen die allgemeine Verbreitung der „Cochlea Implantat“ genannten Hörprothese, weil sie oft nur ein rudimentäres Hören ermöglicht, die gesellschaftliche Akzeptanz der Gebärdensprachen aber deutlich schwächen kann. Ähnlich umstritten sind Exoskelette, weil sie dazu führen können, dass die Gesellschaft eine noch so plumpe Gangart eines Individuums der Nutzung eines Rollstuhles vorzieht. Die Mehrheit kann sich schlechterdings nicht vorstellen, dass eine Minderheit auf vier Rädern besser zurecht kommt als auf zwei Beinen.

Die Vorstellungen nicht beeinträchtigter Menschen davon, was für beeinträchtigte Menschen gut sei, haben allerdings zu oft schon das Leben letzterer bestimmt und behindert. Wenn die vermeintliche technische Errungenschaft dazu führt, dass beeinträchtige Menschen einem immer stärkeren Anpassungsdruck auf von der Mehrheit definierte Normen und Gewohnheiten ausgesetzt werden, dann schadet sie irgendwann mehr als sie nützt. Die möglichen negativen individuellen und gesellschaftspolitischen (Neben-)Wirkungen von Entwicklungen bei derartigen Hilfsmitteln müssen daher stärker beachtet, bedacht und diskutiert werden. Entscheidend muss letztlich sein, dass beeinträchtigte Menschen selbst und ohne Druck darüber bestimmen, ob sie sie nutzen oder nicht.

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