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Ist das Tanz oder kann das weg?

Von Lucca Pizzato / 20. Mai 2020
Credits: Photo by Chris Yang on Unsplash;

Wenn Tanzen eine Kulturtechnik darstellt, dann auch zum Zweck der Ästhetisierung von Bewegung. Der japanisches Ausdruckstanz Butoh verweigert sich dieser Haltung und will im Hässlichen wahre Schönheit erkennen.

Ein in undurchdringliches Schwarz getauchter Raum. Plötzlich durchbricht ein Scheinwerfer die Dunkelheit. Im weißen Lichtkegel taucht eine Gestalt auf. Eine Frau? Ein Mann? Schwer zu sagen. In einem Moment schleicht sie gebeugt. Im anderen kriecht sie auf allen Vieren, um schließlich auf dem Rücken liegend die Beine wie ein Kind von sich zu strecken. Das blasse Gesicht zeigt einen starren, klagenden Ausdruck, die halblangen Haare stehen wirr zu Berge. Fest in ihrer rechten Hand hält sie eine verdorrte Blume, die sie wie einen Zauberstab durch die Luft schwingt. Schrille, sich wiederholende Töne gellen durch den Raum.

Es ist ein so ungewöhnliches wie befremdliches und verstörendes Erlebnis, dem Ganzen zuzuschauen. Und dabei betrachte ich die Szenerie aus sicherem Abstand – durch einen Bildschirm. Ich rätsele, was die Person mir mit ihren Bewegungen mitteilen will. Irritiert frage ich mich: Ist das Tanz?

Rebellierende Körper

Der in weiß gekleidete und geschminkte Tänzer mit dem zerzausten Haar heißt Kazuo Ohno. Seine Performance „My Mother“ entspricht dem Butoh, einem japanischen Ausdruckstanz.Auch als „Tanz der Finsternis“ bekannt, wurde Butoh in den 1950er und 60er Jahren von Tatsumi Hijikata und Kazuo Ohno in Japan entwickelt. Doch inspiriert wurden beide durch den Ausdruckstanz der 20er Jahre aus dem fernen Deutschland, lerne ich. Der Versuch, Erfahrung und Empfinden in Bewegung zu übersetzen, motivierte die beiden, die unbekannte Tanzpraxis in ihr Heimatland zu transportieren. Was entstand, war nichts geringeres als eine Emanzipation von kulturellen und sozialen Normen: Hinterfragt wurde ein ungeschriebenes, stetig reproduziertes Gesetz von dem Streben nach der Schönheit von Körperlichkeit.

Die neu entstandene Bewegungsform im Butoh aber wollte sich aus dem engen Korsett traditioneller Regeln befreien. Es galt, eine Neubetrachtung der Schönheit des Menschseins an sich zu ermöglichen. Statt traditioneller Kostümierung durch Fächer, Schirme und Kimonos im Nō- oder bürgerlichen Kabuki-Theater, provozierte Butoh oft mit purer Nacktheit. Statt Spitzentanz-Leichtigkeit und balletthafte Cabriolen-Grazie wurde hier der Rumpf gebeugt und Kontakt zum Boden gesucht. Die Haltung war zugleich Zitat und Hommage an schwer arbeitende japanische Reisbauern.

Gegen Konventionen antanzen

Dreckige Körper und zu Grimassen verzogene Gesichter kennzeichnen die Tänzer*Innen noch heute. Die Körper werden erst weiß gepudert oder gekalkt, nur um dann in Schmutz und Blut getränkt zu werden. Häufig rollen die Tänzer*innen die Augen nach hinten und konfrontieren die Zuschauer*Innen so schonungslos mit dem “Hässlichen“, ihrem besessenen Gesichtsausdruck. Die Kernaussage dabei: Der Mensch ist nicht immer schön – und muss es auch gar nicht sein.

Tanzen werde im Butoh zum Protest gegen Konventionen, formulierte es der 2010 verstorbene Kazuo Ohno einmal. Während Pina Bauschs Tanztheater auf deutschen Bühnen um den Verstand wirbelt und Andy Warhols schillernde Pop-Art den amerikanischen Kunstmarkt aufmischt, wird im Japan der 60er Jahre mit dem Untergrund-Theater Angura die Gegenkultur etabliert – mit Butoh als skandalösem Aushängeschild. Aber nicht für die großen Bühnen des Landes, sondern für die öffentlichen Straßen und Plätzen des Landes, um eine künstlerische Revolte anzustoßen.

Keine perfekte Leistungsmaschine

Mal geschmeidig und sanft, mal statisch und stakkatohaft bewegen sich die Körper. Als gäbe es keine Choreografie, wirken die Bewegungen teilweise völlig willkürlich. Die Tänzer*innen sollen sich im Butoh ihren Trieben und ihrer Intuition hingeben dürfen und damit den Kontrollverlust bewusst herausfordern. Dem rationalen Ego wird gewissermaßen die Show gestohlen.

Das aktiv handelnde Subjekt, in der deutschen Sprache unabdingbares Element eines jeden Satzes, hat im Japanischen einen geringeren Stellenwert und ist für den Satzbau weitestgehend redundant. Auch im Butoh rücken Bewusstsein und Verstand des Subjekts völlig in den Hintergrund. Der Körper bricht aus der sozialen Domestizierung aus und wird quasi zur Projektionsfläche des Unterbewusstseins – und kann dadurch seine Einzigartigkeit überhaupt erst begreifen, heißt es bei den Begründern.

„Es handelt sich um das Denken meines Körpers“, beschrieb es einst Hijikata, der bereits 1986 verstarb. Ein Körper, der als Spiegel der eigenen Geschichte fungiert, der Identität formt. Ein Körper, der sich im Wortsinne aufbäumt gegen eine all zu strenge gesellschaftliche Inszenierung, wie es beispielsweise dem westlich geprägten Modern Dance inhärent ist. Radikal befreit er sich vom Selbstverständnis einer perfekten Leistungsmaschine.

Grenzwertig und darum wunderschön

Wenn Tatsumi Hijikatas Körper einen behinderten Hund darstellt oder Kazuo Ohno eine vom Leben gezeichnete Frau, schreit ihre Art zu tanzen förmlich nach Liebe und Anerkennung für das Schwache und Gebrechliche, nach Wertschätzung von Reife und Vergänglichkeit, Unvollkommenheit und Makel. Ihre damalige Kunst könnte der heutigen Instagram-“Ästhetik“ nicht ferner sein.

Bezogen auf die Ambivalenz von Schönheit innerhalb des Butoh, erklärt der renommierte zeitgenössische Butoh-Tänzer Tadashi Endo anhand einer Geburt, wie absurd es ist, Ästhetik nur in perfekter Harmonie zu suchen. Wenn ein Kind geboren wird, ist die Situation weder harmonisch noch ästhetisch besonders ansehnlich. Das Baby bringt Schmerzen mit sich. Es schreit zügellos Emotionen aus sich heraus. Objektiv betrachtet kommt da ein blutiges, verknautschtes, glitschiges Wesen aus dem Körper eines anderen, völlig an seine Grenzen gebrachten Menschen. Trotzdem: Fragt man Eltern nach dem schönsten Moment in ihrem Leben, ist die Antwort meistens eindeutig.

Und? Verstanden worum es im Butoh geht? Ich, ehrlich gesagt, auch nicht so ganz. Butoh ist eine Philosophie, bei der Worte an ihre Grenzen stoßen. Letztendlich muss man Tanz aber nicht verstehen, sondern erleben. Deshalb am besten einfach mal „The Spirit Was Gone“ der Band Anthony and the Johnsons anschauen und in Butoh eintauchen…

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