Die Verwerfung der Unendlichkeit
Drei Dinge sind unendlich: Das Universum, die menschliche Dummheit und das Wirtschaftswachstum. Nur bei der Wirtschaft scheiden sich bislang noch die Geister.
Fortschritt lässt sich auf vielerlei Arten messen. Dabei geht es immer darum, voranzukommen. Im Supermarkt, indem wir ein Produkt nach dem anderen in den Einkaufskorb legen, genauso wie im Beruf. Zwar lässt sich eine Karriereleiter nicht immer leicht erklimmen, aber immerhin unkompliziert darstellen. Schwierig wird es bei komplexeren Themen.
Stichwort: gesellschaftlicher Fortschritt. Misst er sich an möglichst großen Freiheiten für alle oder eher an hohen moralischen oder juristischen Tugenden? Auf solch fundamentale Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten. Um sich ihnen anzunähern, bedienen sich insbesondere Wissenschaftler:innen gerne gewisser Hilfsmittel, sogenannter Indikatoren.
Die Macht der Zahlen
Messen lässt sich jede hergestellte Ware. Jede erbrachte Dienstleistung hat einen Wert (Preis). Summiert man alle diese Zahlen, kommt man auf die Wirtschaftsleistung eines Landes. Je höher dessen Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist, desto größer der Wohlstand. Um diesen zu wahren und zu vermehren, muss die Wirtschaft wachsen.
Nichtwachstum wiederum heißt Krise. Nach zwei Quartalen ohne Wachstum spricht man gar von einer Rezession. Die gab es in Deutschland zuletzt 2009 infolge internationaler Krisen. Das heimliche Credo der meisten Volkswirtschaftler:innen lautet darum: „Alles, nur nicht schrumpfen!“
Wächst Wirtschaft allerdings zu schnell, kann sie wieder in einer Rezession enden. Also gilt bei den Wachstumsraten: Über der Inflation müssen sie liegen, gleichzeitig sollen sie langfristig aufrechterhaltbar sein. Trotzdem hielten etliche Wirtschaftsvertreter:innen lange an der Idee des „unbegrenzten Wachstums“ fest.
Wachstum für alle auf ewig
Diese Auffassung ist heute für viele unvorstellbar, weil sie widersinnig erscheint. Wachstum ist immer an Verbrauch geknüpft, so die klassische Wirtschaftslehre. Die Herstellung einer Ware benötigt neben Know-how, Maschinen- und Arbeitskraft Rohstoffe, die es zu verarbeiten gilt. Manche, wie Plastik, sind in Massen verfüg- oder herstellbar, während andere, wie Lithium, sehr rar und aufwändig zu gewinnen sind. Selbst vergleichsweise einfache Dienstleistungen, wie etwa eine Zugfahrt, verschlingen Materialien zur Instandhaltung wie auch Elektrizität.
Dass Wirtschaftswachstum an begrenzte Ressourcen gebunden ist, betonte die Expertengruppe des Club of Rome schon vor fünfzig Jahren in einer Studie mit dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“. Eine der Hauptthesen: Sollten sich weltweite Wachstumstrends wie bisher (Stand 1972) fortsetzen, drohe die Erde innerhalb der nächsten 100 Jahre unter der Last dieser Entwicklung zu versinken.
Das Halbzeitfazit fällt gemischt aus: Zwar speist sich die aktuelle Weltuntergangsstimmung nicht nur aus unserem überproportionalen Ressourcenverbrauch, aber dieser schlägt nunmehr für alle sichtbar unvermindert zu Buche.
Wachsen oder gedeihen?
Doch die pessimistische These hat vielfach Anhänger:innen außerhalb der Wirtschaftspolitik. Wirtschaftswissenschaftler:innen selbst wenden ein, dass in den damaligen Computersimulationen ein Aspekt zu wenig Beachtung fand: der technologische Fortschritt. Die menschliche Innovationskraft, so heißt es aus ihren Reihen, sei in der Lage, ungeahnte Lösungen aufzuzeigen und mithilfe von Produktivitätssteigerungen das Wachstum unvermindert anzutreiben.
Bereits im 16. Jahrhundert sorgte man sich um mögliche Engpässe in der Versorgung mit Holz, das als Material für den Schiffsbau unabdingbar war. Als dann im 19. Jahrhundert Eisen und Stahl Holz ersetzten, verpuffte diese tiefgreifende Furcht schlagartig.
Das Technologieargument ist darum nicht zu leugnen. Bahnbrechende Erfindungen wie die Dampfmaschine oder der Computer haben die globale Wirtschaftskraft (und in Teilen den Wohlstand) exponentiell ansteigen lassen. Die Hauptwährung des endlosen Wachstums ist daher Vertrauen. Darin, dass die Erforschung neuer und erneuerbarer Produktionsmittel und -technologien schnell genug gelingt, um eine existenzielle Katastrophe abzuwenden.
Doch Alternativen zum Endloswachstum werden nicht weniger heißblütig diskutiert. Statt auf die Vermehrung materieller Besitztümer fokussiert man sich verstärkt auf qualitative Zuwächse: individuelles und gesellschaftliches Wohlergehen statt Wachstum; mehr, aber auch “befreiender“ Verzicht statt Massenkonsum; verstärkter Klimaschutz; zusätzliche Unterstützung für faire Arbeit statt Ausbeutung und eine global gerechte Verteilung von Ressourcen.
Das Königreich Bhutan hat das Leitbild des „Bruttonationalglücks“ 2008 in seiner Verfassung verankert, sodass ganzheitliches Wohlbefinden dort über geldgesteuertem Wachstum steht. Gesellschaftlicher Fortschritt wird nicht mit wirtschaftlichem Fortschritt gleichgesetzt.
Die Indikatoren für die Messung von Glück sind natürlich weniger objektiv fassbar als die nationale Wirtschaftsleistung. Außerdem hat ein Staat mit der Einwohnerzahl Frankfurts (Main) deutlich weniger zu verlieren als die Wirtschaftsmacht Deutschland. Aber immerhin macht das Beispiel Bhutan deutlich, dass ein Umdenken möglich und vielleicht sogar erforderlich ist. Denn langfristig funktionieren kann dieser generationenübergreifende Ansatz nur auf globaler Ebene.
John Maynard Keynes, Urvater der modernen Wirtschaftstheorie, sagte 1930 voraus, dass wir im Jahr 2030 achtmal reicher wären und dank unseres Wohlstands lediglich 15 Wochenstunden Arbeit verrichten müssen. Reicher als damals sind wir allemal, aber mit der Umverteilung von Zeit und Geld zum Wohle der Gemeinheit hat es noch nicht so recht geklappt.
Der wirtschaftliche Nachkriegsboom war zu Ende, als infolge der Ölkrise ’73 das Auto, Symbol des Fortschritts, sonntags keine Rolle mehr spielte. So wurde Platz gemacht für mehr Nachhaltigkeit. Zumindest kurz.