„Leute denken, Gesundheit kann nur durch eine Diagnose definiert werden“
Elisabeth Staak ist studierte Sprach- und Literaturwissenschaftlerin sowie Filmemacherin. 2020 gründete sie Deutschlands erstes Filmfestival zu seelischer Gesundheit, mit welchem sie einen Beitrag zur medialen Entstigmatisierung von psychischer Gesundheit leisten möchte.
sagwas: Wie kam es zur Idee, das GoMental!-Filmfestival zu gründen?
Eilisabeth Staak: Nach drei Jahren in den USA kam ich nach Deutschland zurück und wollte mich an einem Filmfestival beteiligen, das sich mit psychischer Gesundheit befasst, weil mir das Thema zum einen sehr am Herzen liegt und ich zum anderen Filmemacherin bin. Doch es gab in ganz Deutschland nichts und das schockierte mich. Ich war davon ausgegangen, dass unsere Gesellschaft auf dem Gebiet weiter gewesen wäre, gerade im Kunst- und Kulturbereich.
Am darauffolgenden Abend bin ich dann in eine Bar in Berlin-Kreuzberg gegangen, wo sich unabhängige Filmemacher*innen regelmäßig treffen und habe dort die Idee für das Festival vorgestellt. So kam das Ganze ins Rollen.
In der Festivalbeschreibung steht: „Das Thema ist in Deutschland weiterhin tabuisiert“. Warum ist es so schwierig, über seelische Gesundheit zu sprechen?
Das liegt daran, dass die älteren Generationen sich wenig oder gar nicht damit auseinandergesetzt haben und auch viele traumatische Ereignisse, die eine ganze Gesellschaft betrafen, nie psychologisch aufgearbeitet wurden. Ich denke, dass dadurch eine Berührungsangst entstanden ist, mit der eigenen Psyche in Kontakt zu kommen. Seit zehn, zwanzig Jahren wird den Leuten zunehmend bewusst, dass seelische Gesundheit ein Teil unserer ganzheitlichen Gesundheit ist. So definiert das auch die WHO und ich glaube, dass es schon ein wichtiger Schritt ist, erstmal bis dahin zu kommen. Also ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die seelische Gesundheit jedes Einzelnen nichts Schlimmes ist, sondern einfach eine Gegebenheit. Das ist ein Erfolg der Aufklärungsarbeit. Trotzdem bleibt es schwierig, mit dem Thema zum Beispiel an Schulen zu gehen, weil eben nach wie vor eine starke Berührungsangst vorhanden ist.
Die letzten Jahre scheinen aber doch einiges in Bewegung gebracht zu haben und das Festival geht dieses Jahr auch in die vierte Runde. Ist eine positive Entwicklung festzustellen?
Ja und nein. Einer Studie zum Trend um seelische Gesundheit im Film der USC Annenberg [Filmschule in Kalifornien, USA, Anm. d. Red.] zufolge, ist die Qualität der Darstellung psychischer Krankheiten tatsächlich im Vergleich zu den Vorjahren schlechter geworden. Es gibt zwar mehr Darstellungen, aber diese sind weniger authentisch und bleiben stigmatisiert. Das Thema ist sicherlich auch durch COVID-19 präsenter geworden, aber das heißt nicht, dass damit besser umgegangen wird.
Die Qualität der Darstellung psychischer Krankheiten ist tatsächlich im Vergleich zu den Vorjahren schlechter geworden.
Elisabeth Staak
Du verkörperst die Brücke zwischen seelischer Gesundheit und Film. Wie steht es um das Thema in der Industrie, hinter der Kamera?
Die Filmbranche an sich neigt zu missbräuchlichem Verhalten. Das geht damit los, dass Mobbing am Set immer wieder vorkommt. Doch auch die Arbeitsbedingungen an sich sind grundsätzlich schlecht. Die Crews müssen ständig über ihre Leistungsgrenzen hinausgehen, da konstant sehr viel Zeitdruck herrscht, des Geldes wegen.
Es gibt aber auch einzelne Bestrebungen, das zu ändern. Leo Anna Thomas aus dem Vereinigten Königreich hat vor einigen Jahren an Filmsets die Position des „Well Being Facilitator“ geschaffen, eine Art Bezugsperson und Ansprechpartner*in. Ist der zwischenmenschliche Umgang am Set problematisch, können sich alle Beteiligten, auch anonym, an diese Person wenden, die es dann an die Produktion weiterleitet. Außerdem kamen aus der MeToo Bewegung Intimitätskoordinator*innen dazu, die intimen Szenen choreografieren und begleiten. Jedenfalls nehme ich an Sets, wo mehr jüngere Personen arbeiten, ein anderes Bewusstsein wahr als an Sets, wo Menschen arbeiten, die das schon seit 20, 30 Jahren machen.
Und wie steht es um die Darstellung seelischer Gesundheit auf der Leinwand?
In der Regel werden Charaktere mit psychischen Erkrankungen als kriminell oder gewalttätig dargestellt. Die Zahl liegt laut einigen Studien bei über 60 Prozent. Das betrifft vor allem die großen Blockbuster Filme, etwa den „Joker“ (2019). Im Indie-Bereich sieht es hingegen anders aus, wenn ich zum Beispiel an „After Sun“ (2022) denke, der auch ein großes Publikum erreicht, viel Anklang gefunden hat und selbst von der Kritik gelobt wurde. Da wurde mit sehr viel Sensibilität für das Thema gearbeitet und dies sollte die Prämisse eines jeden Drehbuchs sein, auch im Mainstreamkino.
Manchmal kommt es gelegen, Gewalt durch psychische Krankheiten im Plot zu rechtfertigen, aber man sollte sich darüber bewusst sein, dass betroffene Menschen dadurch marginalisiert und diskriminiert werden. Es ist sehr einfach, mit Klischees zu arbeiten, weil das halt funktioniert. Es funktioniert aber nur, weil es eben ein Klischee ist und das Publikum dies schon sehr oft genau in derselben Form gesehen hat.
Bei der Vielfalt der Filme merkt man, wie breitgefächert der Begriff seelischer Gesundheit ist. Welcher Schwerpunkt bildet das diesjährige Programm?
Zunächst: Wir definieren das nicht im Vorhinein. Doch in jedem Jahr ist ein bestimmter Trend erkennbar. Wir sind ein internationales Filmfestival und bekommen Einreichungen aus sehr vielen verschiedenen Ländern. Das zeigt eigentlich einen guten Querschnitt darüber, was die Menschen aktuell beschäftigt.
Dieses Jahr ist Trauerverarbeitung besonders prominent. Zahlreiche Filme setzen sich mit Verlust und Trauer auseinander, was vielleicht nicht sofort unter seelischer Gesundheit eingeordnet werden würde. Das liegt eben wieder daran, dass viele Leute denken, Gesundheit kann nur durch eine Diagnose definiert werden. Aber wenn wir Verlust oder Liebeskummer erleben, arbeitet unsere Psyche damit und betrifft somit unsere Gesundheit. Ein weiteres großes Thema ist die psychische Gesundheit von Kindern. Wir haben sehr viele Filme bekommen, in denen Kindern eine Stimme gegeben wird oder auch der seelischen Gesundheit ihrer Eltern. Der erstplatzierte Film „Reclaiming the Night“ ist eine Dokumentation aus Großbritannien, die sich mit der Traumaverarbeitung von Kindern in Kriegsgebieten beschäftigt. Diese werden oft als hoffnungslose Fälle abgeschrieben, aber der Professor, der in der Dokumentation gezeigt wird, erklärt, dass es Möglichkeiten gibt, in der Behandlung aus den Alpträumen dieser Kinder, gute Träume zu machen. Ich finde, es ist ein zutiefst hoffnungsvoller Film und genau solche Stimmen brauchen wir in diesem Moment mehr denn je.
Was war ein persönliches Highlight dieses Jahr?
Es berührt mich immer, wenn die Leute nach dem Screening aufeinander zugehen und sich über die Filme austauschen. Wir wollen ein Plattform geben, wo man sich wohlfühlt, über seelische Gesundheit zu reden. Ein besonderer Moment war, als wir eine Dokumentation aus Norwegen gezeigt haben, wo es um das Alice im Wunderland-Syndrom ging. Das ist eine neue, relativ unerforschte Diagnose, laut welcher Betroffene sich selbst oder ihre Umgebung auf halluzinatorische Weise verändert wahrnehmen. Einer der Juroren hatte durch den Film die Realisierung, dass er 26 Jahre lang mit diesem Syndrom gelebt hat, aber nie einen Namen dafür hatte. Er hat das beim Q&A am Ende des Abends mit dem Publikum geteilt, was sehr mutig von ihm war. Das hat mich sehr berührt.