Die EU als etwas Selbstverständliches
Der zweite Teil des Interviews mit dem Team der FES Warschau beschäftigt sich mit den deutsch-polnischen Beziehungen, Polen in der EU und den bevorstehenden Parlamentswahlen.
Wie ist die polnische Sicht auf Deutschland?
FES Warschau-Mitarbeiterin Joanna Andrychowicz-Skrzeba (A-S): Deutschland wird in Polen als ein wirtschaftlich sehr starkes Land gesehen. Deutschland ist auch das wichtigste Exportland für Polen. Die Mehrheit akzeptiert, dass Deutschland in der EU eine Führungsposition inne hat mit Angela Merkel, die eigentlich ganz Europa regiert. Man ist nur dann stark, wenn man einen guten „leader“ hat. Man versteht auch die eigene Rolle in der EU. Polen möchte eine immer größere Rolle in der EU spielen und will, dass seine Stimme gehört wird, aber man ist sich bewusst, dass man eigentlich in der zweiten Reihe steht – aus vielen Gründen.
Welche Themen spielen in den deutsch-polnischen Beziehungen eine Rolle?
A-S: Die Themen Flüchtlingskrise, Sicherheit und NATO sind wichtig in Polen. Die Stellung Deutschlands bei diesen Themen ist nicht immer so, wie Polen sie sich wünscht. Das war so mit der deutschen Stellung gegenüber der Ukrainekrise zu Beginn, als man eine solidarische Stellung der ganzen EU erwartet hat, oder als es um die NATO-Basen in Polen ging. Das war ein sehr wichtiges Thema für die Mehrheit der polnischen Bürger und alle Parteien. Auch in der Flüchtlingskrise wird die Rolle Deutschlands in Polen kritisch gesehen. Aber es ist gut, dass man keine konkreten Zahlen genannt hat, wie viele Menschen jedes Land aufnehmen muss. Das würde Europa noch mehr schwächen und wäre in Polen nicht gern gesehen. Das hätte Auswirkungen auf die Einstellung zu Deutschland gehabt.
Wie fällt die Bilanz der ersten zehn Jahre Polens in der EU aus?
FES Warschau-Mitarbeiterin Barbara Szelewa : Für die meisten Menschen sind die offenen Grenzen der wichtigste Aspekt. Ein anderer Aspekt sind die EU-Fonds, die viel Infrastruktur gebracht haben. Die Leute sehen und schätzen das.
A-S: Es ist für uns mehr oder weniger Alltag. Ich würde die polnische Gesellschaft in drei Gruppen einteilen. Eine Gruppe sind die jungen Leute, für die die EU etwas absolut Selbstverständliches ist. Sie haben keinen Vergleich. Meine Generation kann sich erinnern und kann vergleichen. Meine Schwester ist nur drei Jahre älter als ich und konnte das Erasmus-Programm noch nicht nutzen, ich schon. Unsere Generation hat die Unterschiede wirklich gespürt. Und für unsere Eltern sind die offenen Grenzen und wie sich Polen entwickelt hat – früher bekam man keinen Pass und heute braucht man ihn nicht mehr – eine deutliche Änderung.
Spielen europäische Themen im Wahlkampf eine Rolle?
A-S: Es ist nicht so, dass die europäischen Themen keine Rolle spielen. Die Flüchtlingskrise ist ein Thema, bei dem sich einige Zeit lang niemand äußern wollte, weil man wusste, dass das sehr heikel ist. Es kam die Zeit, wo man sich äußern musste. Die Regierung musste Entscheidungen treffen, weil die Gipfel kurz vor den Wahlen kamen, das ging nicht anders. Die Opposition musste sich auch äußern, musste kritisieren. Das ist ihre Rolle. Die große Mehrheit der polnischen Gesellschaft hat Angst, ist nicht so offen und nicht so positiv eingestellt, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Die Parteien können, wie die PiS zum Beispiel, auch gewinnen, wenn sie sich skeptisch äußern.
Wie schätzen Sie den Wahlausgang und dessen Auswirkungen ein?
A-S: Nach der Wahl werden wir wahrscheinlich eine PiS-geführte Regierung haben. Es ist schwer zu sagen, wie deren Außen- und Europapolitik aussehen wird. Ich glaube, dass es sich im Vergleich zu dem, was wir haben, nicht sehr ändern wird. Sie wollen einfach deutlicher werden, entschiedener die polnische Meinung präsentieren und für diese kämpfen. Die Situation in Europa und die Rolle Polens haben sich geändert. Viele Themen, die während der letzten PiS-Regierung wichtig waren, sind es heute nicht mehr. Interessant ist eine Umfrage, die aussagt, dass 81 Prozent der PiS-Wähler pro-europäisch sind. Bei der Bürgerplattform sind es 89 Prozent, was zeigt, dass die Wähler der PiS keine anti-europäischen Äußerungen und Handlungen erwarten.
Büroleiter Roland Feicht: Man muss differenzieren zwischen symbolischen Handlungen und realpolitischen Handlungsweisen. Das habe ich hier gelernt. Polen hat selbst in den zwei Jahren der „Kaczyński-Ära“ fast alle Verträge unterschrieben. Es gab sehr viel Rhetorik, es gab sehr viel Ärger. Aber selbst die Kaczyńskis haben niemals den europäischen Kurs Polens in Frage gestellt. Die Abgabe nationaler Souveränität wird Polen aber sicherlich immer erst dreimal hinterfragen, vor dem Hintergrund seiner Geschichte.
Rubrik „Persönliches“
Europabloggerin Leonie Haueisen hat Menschen in Polen gefragt, was sie mit der EU verbinden, ob sie sich als Europäer fühlen – und was sie über ihre Nationalhymne wissen. Jeden Tag werden einige Antworten vorgestellt, heute die der FES-Mitarbeiter.
Zu welchem Anlass wird die polnische Nationalhymne gesungen?
Feicht: Zu fast allen Anlässen. Polen war 123 Jahre lang gar kein Staat und wurde von den Deutschen fast vernichtet. Da spielen Religion, Kultur, Sprache, das Symbolische wie die Nutzung der polnischen Nationalhymne und die Erinnerungskultur und Geschichte eine ganz besondere Rolle. Ich war auf dem Gewerkschaftstag der Lehrergewerkschaft. Da wurden die Nationalhymne und dann die Hymne der Gewerkschaften gesungen.
Szelewa: Ich habe die polnische Nationalhymne bei der Eröffnung des Frauenkongresses gehört.
A-S: Bei allen nationalen Feiertagen. Manchmal auch an den Schulen am Anfang und am Ende des Schuljahres. Im ersten Programm des polnischen Rundfunks wurde um 12 Uhr in der Nacht die polnische Hymne abgespielt.
Fühlen Sie sich als Europäer?
A-S: Ja. Wahrscheinlich deswegen, weil die positiven europäischen Werte mir nah sind. Ich glaube, dass die EU ein sehr großer Erfolg der Nachkriegszeit ist, ein sehr wichtiges Projekt, ohne das es keinem von uns gut gehen wird. Deshalb sollte man sich darum bemühen. Vielleicht fühle ich mich auch als Europäerin, weil es für mich mittlerweile selbstverständlich ist, dass wir in Europa sind.
Szelewa: Ja. Vielleicht, weil ich die EU-Institutionen nicht als etwas Äußeres sehe, sondern eher als etwas, das zu uns gehört. Etwas, das wir kritisch begleiten und verbessern sollten.
Was fällt Ihnen als erstes zum Stichwort EU ein?
A-S: Zuerst habe ich an Gemeinsamkeit gedacht, ein Zusammenschluss von unterschiedlichen Partnern, die zusammen handeln wollen. Das Zweite war schon Krise.
Szelewa: Frieden.