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Double-check gegenüber Russland

Von Leonie Haueisen / 10. Oktober 2015
Foto: Kevin Tiedgen

In Polens Wahlkampf geht es weniger um Europa als um die nationale Sicherheit. Eine Expertenanalyse.

Vor Polens Beitritt in die EU gab es eine Debatte darüber, ob die nationale Souveränität und die europäische Integration ein Widerspruch seien. Auch Polen musste Kompetenzen an die EU abgeben, jedoch (noch) nicht im Währungsbereich. „Aus polnischer Perspektive ist das heute noch ein gewisser Widerspruch, auch wenn die Zustimmung für die EU in der polnischen Gesellschaft sehr hoch ist“, sagt Bartosz Rydliński, Co-Gründer des Ignacy-Daszyński-Zentrums (IDZ).

Nationale Souveränität vs. europäische Integration

Der Widerspruch werde aber nur thematisiert, wenn EU-Gipfel anstünden. Dann werde auch die Frage laut, inwieweit die EU Vorschriften machen darf und wie Polen seine Stimme in der EU verstärken kann. Im Wahlkampf sind diese Themen nun eher spürbar. Auch die Flüchtlingsdebatte spielte für kurze Zeit eine Rolle, wurde aber sehr schmutzig geführt, da Polen und die EU verschiedene Interessen verfolgten. In Polen wird Merkel vorgeworfen, sie habe den Fehler gemacht, alle Flüchtlinge einzuladen und auch Polen müsse dafür bezahlen. Die PO (Bürgerplattform) verknüpft dies mit einer Solidaritätsdebatte.

Das Argument, dass Polen so viele Ukrainer aufgenommen habe, gelte, so Rydliński, nur für den östlichen Teil Polens. Die Ukrainer seien aber keine Flüchtlinge im eigentlichen Sinne. „Viele bedienten sich gerne dem Argument, um nicht anti-europäisch oder unsolidarisch zu wirken“, so Rydliński. Um erfolgreich Politik zu machen, sollten die polnischen Interessen laut Rydliński beispielsweise in der Russland- und Ukrainepolitik auch die europäischen Interessen sein. Die deutsch-polnischen Beziehungen seien dabei sehr wichtig.

Die polnische Außenpolitik: Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit

Doch Polen hat noch weitere Partner. Ganz besondere, historische und traditionelle Beziehungen pflegt Polen mit den USA. In Warschau gibt es beispielsweise ein Ronald-Reagan-Monument. „Doch inzwischen fußen die Beziehungen von polnischer Seite aus vor allem auf Pragmatismus“, sagt Agnieszka Łada, Leiterin des europäischen Programmes im Institut für Öffentliche Angelegenheiten (ISP). Polen sei immer als zuverlässiger Junior-Partner der USA z. B. im Irakkrieg aufgetreten, man habe aber wenig dafür zurückbekommen.

Die Zustimmung zur NATO hat sich seit Beginn der Ukrainekrise wieder erhöht. Das Bedrohungsgefühl durch Russland gehört zur polnischen Mentalität. Auch Russlands und Polens Interessen unterscheiden sich beispielsweise in Bezug auf die baltischen Staaten, Weißrussland, die Ukraine, die nationale Sicherheit und Souveränität sowie die wirtschaftliche Souveränität. Polen mache gern einen „double-check“ gegenüber Russland und seinen Intentionen. „Die Beziehungen zu Russland sind sehr schlecht und werden von Woche zu Woche schlechter“, sagt Łada.

Die Botschaft der Ukraine in Warschau, ganz in der Nähe des Außenministeriums und der Kanzlei des polnischen Ministerpräsidenten. Foto: Leonie Haueisen

Eine besonders hohe Priorität in der polnischen Außenpolitik hat die Ostpolitik und hier zurzeit besonders die Ukraine. Polen wünsche sich mehr Mitspracherechte in der EU bezüglich der Ukraine-Krise.

Die Wahl rückt näher

Das wichtigste Thema aller Parteien im Wahlkampf sind Wirtschaft und Löhne. Sowohl Łada als auch Rydliński gehen davon aus, dass es nach der Wahl einen Regierungswechsel geben wird. Das werde aber kein Erdbeben, keine Wiederholung der Jahre 2005 bis 2007 werden, meint Łada. „Polen ist nun viel entwickelter und die EU und die deutsch-polnischen Beziehungen haben sich verändert.“ Ein Rückschritt wäre kaum möglich.

Es gehe der PiS (Partei für Recht und Gerechtigkeit) wie auch dem neuen Präsidenten Duda nicht um große Änderungen, sondern um kleine Korrekturen. Es gebe Probleme, die unabhängig von der Regierung existieren, darunter die Migrationswellen oder auch die Energie- und Klimapolitik. Von einer PiS-Regierung könne man in diesem Bereich ein schärferes Verhandeln erwarten, sagt Łada.

Rydliński sieht einem Regierungswechsel kritischer entgegen. Er sieht mit einer PiS-Regierung eine andere Realität zwischen Brüssel und Warschau aufkommen. Zwar seien die meisten Parteien für die EU, hätten jedoch verschiedene Ansätze. Während die SLD (Bund der Demokratischen Linken) und die PO für eine föderale EU und mehr Integration einträten, fordere die PiS zwar eine starke EU, aber ein Europa der Vaterländer, in dem Polen eine größere Rolle spielt.

„Über die Frage über Polens Rolle in der EU gibt es keine eine öffentliche Debatte“, sagt Rydliński. Er meint, das Thema sei so selbstverständlich, dass es für den Wahlkampf nicht „sexy“ genug sei. Im vergangenen Präsidentschaftswahlkampf im Frühjahr ging es vor allem um die Ukraine und in diesem Zusammenhang um Polens Sicherheit.

Viele Debatten wurden und werden nur in Expertenkreisen geführt. Es sind noch etwa zwei Wochen bis zur Wahl, doch im Straßenbild ist der Wahlkampf noch nicht präsent. Der Wahlkampf finde mehr in den sozialen Medien und bei Wahlveranstaltungen statt und weniger auf der Straße, so Łada.

Bartosz Rydliński ist in die Wahlkampagne der SLD eingebunden und hat an deren Programm für die Parlamentswahlen mitgewirkt. Foto: Leonie Haueisen

Hintergrundinformation

Das Institut für Öffentliche Angelegenheiten (ISP) wurde 1995 mit der Aufgabe gegründet, Polen bei der Steuerung der Demokratieprozesse und bei der Aufnahme in die EU zu helfen. Heute unterstützt es Polen darin, eine starke Rolle in der EU einzunehmen, und kümmert sich um die Demokratie, die Entwicklung und den Rechtsstaat in Polen.

Das Ignacy-Daszyński-Zentrum (IDZ) ist ein politischer Think-Tank, welcher der Sozialdemokratie nahesteht. Neben der Organisation von Seminaren und der Zusammenarbeit mit europäischen Partnern liefert das Zentrum vor allem Beiträge für die öffentliche Diskussion. Bartosz Rydliński bezeichnet sich selbst als Projektmanager des Zentrums.

Rubrik „Persönliches“: Auch die heutigen Interviewpartner sind von Leonie Haueisen befragt worden.

An was denken Sie, wenn Sie die polnische Nationalhymne singen?

Agnieszka Łada: Ich bin stolz, Polin zu sein und vor allem darauf, was wir hier in den vergangenen Jahren erreicht haben, wenn ich die Hymne höre und mitsingen kann, weil ich so erzogen wurde. Ich habe starke patriotische Gefühle. Aber ich bin auch Europäerin. Die Worte der Hymne sind sehr schön und zeigen viel von der polnischen Geschichte. Das gefällt mir. Das gleiche Gefühl habe ich bei der EU-Hymne, obwohl sie offiziell nicht existiert.

Bartosz Rydliński: Ich fühle Stolz und bin sehr gerührt. Ich fühle mich als Teil der polnischen Geschichte, als Teil einer Gemeinschaft. Der Text der polnischen Nationalhymne ist sehr tragisch, der Kampf für Unabhängigkeit, das Gefühl der Tapferkeit. Man ist ein Teil dieses großen Kampfes für das eigene Land. Aber wenn ich die europäische Hymne singe, fühle ich mich auch als Teil einer Gemeinschaft. Das ist auch eine Art Stolz, dass ich ein Mitglied der europäischen Tradition und Familie bin. Besonders wenn ich die europäische Hymne mit Menschen aus verschiedenen Nationen singe, fühle ich mich als Europäer.

Zu welchem Anlass wird die polnische Nationalhymne gesungen?

Łada: An allen nationalen Feiertagen, am 11. November, 15. August und 3. Mai. Bei großen Veranstaltungen, z. B. heute in der deutschen Botschaft. Bei Sportereignissen. Bei Veranstaltungen, die etwas mit der polnischen Geschichte zu tun haben. Auf jeden Fall öfter als in Deutschland, aber viel seltener als noch vor zwanzig Jahren. Außerdem wird hier mitgesungen.

Was fällt Ihnen zum Stichwort EU ein?

Łada: Gemeinschaft und Solidarität. Gemeinsame Regeln, gemeinsame Rechte und Verantwortung, für sich selbst, aber auch für gemeinsame Probleme.

Rydliński: Offene Grenzen, das freie Reisen. Ich erinnere mich an die Grenzen. Ich bin 1985 geboren. Es war 1992 oder 1993 und wir waren zum ersten Mal im Ausland, wir fuhren in den Westen, durch Deutschland. An der Grenze zu Deutschland haben sie unseren Bus für sechs Stunden aufgehalten. Ich habe geweint. Ein anderes Mal kam ich nach Schweden und sah mich mit vielen beleidigenden Fragen konfrontiert, wie viel Geld ich dabei habe, wie lange ich bleiben und wann ich wieder gehen würde, ob ich ein ökonomischer Migrant sei. Einige Wochen vor unserem EU-Beitritt stellte man mir dieselben Fragen. Ich bekam einen Stempel in meinen Pass. Ich sagte: „Ich hoffe, dass Sie nach dem 1. Mai dieses Jahres aufhören, mir diese Fragen zu stellen.“ Die Grenzbeamtin wurde rot und wütend, antwortete aber auf eine höfliche Art: „Das werden wir.“

Wenn ich an die EU denke, ist das ein anspruchsvoller Club der reichen Länder. Wir sind Teil der „Ersten Welt“ und nicht mehr das post-kommunistische arme Land. Wir sind ein Mitglied des Westens. Die EU ist für mich einer der Gründe für die polnische Modernität. Ich schätze die EU-Fonds. Wenn ich die europäische Flagge sehe, bin ich sehr gerührt. Die EU verdient meinen Respekt.

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