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Hört mir auf mit euren Narrativen!

Von Alexander Kloß / 16. Oktober 2023
picture alliance/vizualeasy | kebox

Deutsche Politiker:innen von der Ampel bis zur Opposition verzweifeln derzeit an den Rekordergebnissen der AfD. Um dem beizukommen, braucht es neue Mittel und ein Eingeständnis.

In der amerikanischen Filmkomödie “Und täglich grüßt das Murmeltier” erwacht der von Bill Murray verkörperte Hauptcharakter eines Tages mit der schaurigen Gewissheit, immer wieder den gleichen Tag durchleben zu müssen. Selbst eine Reihe spektakulärer Selbstmordversuche bringt ihn seinem Ziel, die Zeitschleife zu durchbrechen, nicht näher, und treibt ihn stattdessen immer tiefer in die Verzweiflung.

So in etwa mag es dieser Tage der deutschen Politik mit Blick auf den Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD) ergehen. In Hessen und Bayern fuhr sie Rekordzahlen ein. Umfragen im Bund verorten sie mit mehr als 20 Prozent doppelt so stark wie 2021. Aber auch in anderen europäischen Ländern wird klar: Von ignorieren bis anbiedern gibt es bislang scheinbar kein Rezept gegen den Vormarsch von Rechtsaußen-Parteien. Doch was machen sie in den Augen ihrer wachsenden Unterstützerzahl richtig und wie kann man ihnen Einhalt gebieten?

Die Macht des Mythos

Spätestens seit der globalen Finanzkrise 2007/08 haben sich allumfassende Szenarien langsam auserzählt. Die freiesten Märkte produzierten auf einmal nicht mehr die freiesten Menschen, sondern die größten Ungleichheiten. Keine 20 Jahre zuvor zerbröckelte im Ostblock das letzte bisschen Zuversicht, dass der von der Sowjetunion übergestülpte Kommunismus die bessere Variante für Europa sein könnte.

Diese Erzählungen waren so durchdringend, dass sie zu regelrechten Mythen stilisiert wurden. Einerseits als globaler Sieg des “American Dream”, andererseits als weltweiter Vormarsch des Proletariats. Doch eben jene Mythen zerbrachen für die Allermeisten, nachdem sie im ungeschönten Feldversuch an ihre Grenzen gekommen waren.

Genau deswegen funktioniert der Mythos der “Festung Europa” mit massiven Zäunen an den Außengrenzen so erschreckend gut: Er bietet täuschend einfache Lösungen für komplexe demografische Probleme. Umsetzen ließe sich die damit verbundene Abschottungspolitik nur, wenn die jeweiligen Anti-Migrations-Parteien in Europa tatsächlich an die Macht kämen. In Ungarn steuert Viktor Orbáns Fidesz-Partei in diese Richtung. Die Ukrainepolitik der polnischen PiS verdeutlicht, wie selektiv man Geflüchtete dort je nach Herkunft willkommen heißt.

Aber bitte nicht nachmachen: Eine Übernahme von Rechtsaußen-Positionen stärkt extrem rechte Parteien oft selbst und macht ihre Ansichten gesellschaftskonformer, wie Forscher:innen der Universität Wien und der University of Oxford bereits 2022 anhand von zwölf westeuropäischen Ländern analysierten.

Apokalypse? Nein, danke!

Der polnische Politologe und Publizist Leszek Jazdzewski schreibt in “Die Macht der Mythenbildung”, dass selbst der Mythos des Nationalstaates oft auf eine “erdachte Vergangenheit” zurückgeht, die sich selten wirklich so abgespielt hat, wie gerne behauptet wird. Gleichwohl bemerkt Jazdzewski, dass rechte Strömungen heute von ihrem Monopol an wirkungsmächtigen Mythen zehren.

Nachdem der liberale und der sozialistische Traum sich vorerst ausgeträumt haben, steht dem emporkriechenden rechtsnationalen Mythos eines “heilen Deutschlands” rhetorisch nur wenig im Weg. Aus erzählerischer Sicht am ehesten dagegenhalten könnte wohl grüne Politik, die immerhin eine klare Vorstellung von der Zukunft kommuniziert. Doch die ist weit weniger rosig und scheint viel schwerer umsetzbar als z.B. die der AfD. Für die Erschaffung ihres prophezeiten rechtspopulistischen Schlaraffenlandes bräuchte es nämlich “nur” ein paar restriktive Gesetze und idealerweise einen EU-Austritt – theoretisch machbar in einigen Jahren.

Die Rettung der Welt vor der “Klimaapokalypse” hingegen ist eine Herkulesaufgabe. Als Hauptgewinn winkt eine Erde, die ähnlich zugrunde gerichtet ist wie die heutige. Und ungeachtet der Tatsache, dass der prognostizierte Klimakollaps an einem Großteil der aktuellen Wählerschaft noch halbwegs glimpflich vorbeiziehen würde: Die akute Angst vor dem sozialen Abstieg und der Überfremdung (mutmaßlich im direkten kausalen Zusammenhang) wirkt umso dringlicher.

Angebote machen und Ideen verwirklichen

Wie ein erzählerisches Gegengewicht des progressiven Lagers aussehen könnte? Eine offensichtliche Antwort gibt es nicht. Sie wird sich jedoch an drei K.-o.-Kriterien orientieren müssen.

Erstens: Die Idee muss Vision werden und ein positives Licht auf unseren Platz in der Welt werfen. Das hat mit Selbstbeweihräucherung nichts zu tun. Aber Appelle funktionieren nur, wenn man auf bessere Zeiten hoffen kann, während man zurückstecken muss.

Zweitens: Die Sorgen der Menschen müssen ernst genommen werden. Gerade in Ostdeutschland braucht es politische Angebote, die die Furcht vor sozialer Abwertung und wirtschaftlicher Abwärtsspirale im Blick haben und auf deren Umsetzung Verlass ist.

Und drittens: Die Politik hinter dem Mythos muss stets stichhaltig und gemeinwohlorientiert sein, um die billigen Mythen der Rechten einzukassieren.

Laut DIW-Ökonom Marcel Fratzscher würde die Politik einer potenziellen AfD-Regierung vor allem ihren eigenen Wähler:innen schaden. Aus dem Mythos wird schnell die Mythomanie – die krankhafte Lügensucht. Der naheliegende Appell an verantwortungsbewusste Politiker:innen ist entsprechend simpel: Die Messlatte liegt verdammt niedrig, also reißt sie bitte nicht schon wieder! Selbst Bill Murrays Figur konnte irgendwann das Blatt noch wenden. Was es brauchte? Einen Sinneswandel

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