Metropole im Taschenformat
Was zeichnet Brüssel abseits des Europaviertels und touristischer Hotspots aus? Drei Menschen erzählen ihre ganz persönliche Sichtweise auf die europäische Hauptstadt.
Brüssel ist jung. Der Altersdurchschnitt liege bei 34 Jahren, sagt Malte Woydt. Der gebürtige Hamburger ist Stadtführer und ehemaliger Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seit 19 Jahren lebt Woydt in Brüssel und kennt die Stadt inzwischen wie seine Westentasche.
Bei der Frage, welcher Teil der europäischen Hauptstadt für ihn am Schönsten sei, muss er nicht lange überlegen. „Hier“, sagt er und zeigt aus dem Fenster. Gegenüber liegt der Josaphatpark im Herzen des Stadtteils Schaerbeek. Seit Woydt in Brüssel lebt, wohnt er hier. „Vier Mal bin ich rund um den Park umgezogen.“ Es gebe hier zahlreiche Straßen mit hunderten von Gründerzeitvillen und individuell gestalteten Einfamilienhäusern.
Farina Marx mag an Brüssel die „unfassbar netten Menschen“ und dass es unter den Bewohnern „keine verhärteten Fronten gebe“. Die Promotionsstipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung ist vor allem im südlichen Stadtteil Uccle mit ihrer Partnerin und ihrem 15 Monate alten Sohn unterwegs. „Ich bin dort sehr gerne, weil uns alle kennen und wir alle kennen.“ Außerdem gebe es in Uccle sehr viele Parks und eine Innenstadt mit kleinen Geschäften. Trotzdem sei das Lebensgefühl großstädtisch. „Man weiß, dass man in Brüssel ist.“
Kampf gegen bürokratische Windmühlen
In die belgische Hauptstadt kam Marx, die eigentlich aus Mühlheim an der Ruhr stammt und in Düsseldorf im Bereich Jüdische Studien promoviert, im Januar dieses Jahres. Danach musste sie erst einmal einen Kampf gegen bürokratische Windmühlen führen. „Mich hat überrascht, dass uns so viele Steine in den Weg gelegt wurden“, sagt sie.
Da ihr Status als in Deutschland promovierende Stipendiatin einer deutschen Stiftung in Belgien unklar gewesen sei, habe sich der Anmeldeprozess über ein halbes Jahr lang hingezogen. „Das war ein ganz großes bürokratisches Problem.“ Dadurch sei beispielsweise ihr gemeinsames Konto gesperrt worden. „Jetzt habe ich den Status als jemand, der genug Geld zum Leben hat.“ Sie werde als Stipendiatin ähnlich wie in Belgien wohnende Millionäre behandelt, erzählt die 29-Jährige lachend.
Mit den Millionären gemeinsam hat Marx außerdem, dass sie in einem Vorort wohnt. Denn anders als in anderen europäischen Großstädten leben in Brüssel erstaunlich viele ärmere Menschen im Stadtzentrum. Dazu erklärt Stadtführer Malte Woydt: „In Paris versteckt man die armen Leute vor den Touristen in den Vororten. In Brüssel versteckt man die reichen Leute vor den Touristen in den Vororten. Deswegen hat man als Tourist schnell den Eindruck, in einer armen Stadt zu sein, weil man um die Innenstadt herum durch die ärmsten Viertel Belgiens läuft.“ Dabei sei Brüssel nach London der zweitreichste Ballungsraum der Europäischen Union.
Brüssel ähnele der englischen Hauptstadt noch in einem weiteren Aspekt: der Mischung unterschiedlichster Kulturen im Stadtbild. „Brüssel ist eine Metropole im Taschenformat“, sagt Woydt. Die Hälfte der Bevölkerung sei ausländischer Herkunft, aber nur ein kleiner Teil seien Eurokraten, daneben ehemalige Gastarbeiter und weitere Migranten. Das sei eine ethnische Mischung, die man innerhalb Europas sonst nur in London oder Paris antreffe.
Den Einfluss der sogenannten Eurokraten auf Brüssel hält der Stadtführer für überschätzt. „Die Leute, die im Europamilieu arbeiten, denken immer, sie seien wahnsinnig wichtig für die Stadt, aber das ist nicht so. Hier wohnen mehr als eine Million Menschen, die mit Europa nichts zu tun haben.“ Die Eurokraten hätten lediglich Einfluss in den Vierteln um ausländische Schulen herum. „Aber das betrifft die meisten Leute nicht.“
Viel Bier und Fritten sind kein Klischee
Es überwiegt also das Belgische in Brüssel. Die besten Fritten soll es übrigens am Place Jourdan bei Maison Antoinette geben. Auf dem Platz prangt bei vielen Kneipen ein großes Schild am Eingang: „Fries allowed.“
Dennoch ist die Frage, was eigentlich belgisch ist, nicht so leicht zu beantworten. Der wallonische Teil unterscheidet sich durchaus vom flämischen. Brüssel ist ein Schnittpunkt dazwischen. Das fällt auch mit Blick auf die Straßenschilder direkt ins Auge. Sämtliche Straßen sind zweisprachig ausgeschildert. Auch die offizielle Werbung wird immer in zwei Sprachen ausgestrahlt.
Wen man in der Stadt kennenlernt, ist von Stadtteil zu Stadtteil unterschiedlich. Es hängt stark vom Ort ab, an dem man sich in Brüssel befindet. Und auch vom Alter und der Brieftasche der Leute, mit denen man redet, meinen einige. Mit Belgiern kommt man aber nicht unbedingt häufig in Kontakt. Dennoch: Wer das Atomium sieht, kann direkt in das Herz Europas eintauchen. Mehr Brüssel geht eigentlich nicht.
„Ich bin ein ganz großer Fan vom Atomium“, sagt Promotionsstipendiatin Farina Marx. „Immer wenn ich aus Mühlheim nach Brüssel komme, ist das Atomium das erste, was ich sehe, wenn ich nach Brüssel reinfahre. Egal wie schlecht das Wetter ist, das Atomium glitzert immer – das ist ganz toll.“ Doch nicht nur dieses Wahrzeichen hat es ihr angetan.
Sie liebe auch den Grand Place, obwohl es da sehr touristisch sei. „Seit ich vor zwölf Jahren das erste Mal hier war, ist der Grand Place ein Ort, an dem ich sehr gerne bin. Ich stehe dann einfach so da und gucke. Denn obwohl Brüssel die europäische Hauptstadt ist, habe ich selbst im Zentrum nie das Gefühl, in einer Großstadt zu sein“, sagt sie.
Swing Tanzen im Madame Moustache
Außerdem gebe es sehr viele Kneipen, in denen man später am Abend meistens auch tanzen kann. Das Madame Moustache etwa ist ein toller Ort, eine alte Swing-Bar mit großen Glühbirnen und richtigem Retro-Feeling. Die Stadt hat aber so viel mehr zu bieten, dass man sich kaum traut, Dinge zu planen.
Das ist auch laut Malte Woydt in Brüssel Programm. Der Kulturkalender der Stadt decke maximal 20 Prozent aller Veranstaltungen ab. Den Rest müsse man selbst suchen. Für ihn sei das jedoch beruflich von Vorteil. „Der Markt für Stadtführer in Brüssel ist deswegen so groß, weil die Führungen der Touristen-Information so miserabel sind.“ Er biete bei seinen Führungen immer eine bunte Mischung aus Politik, Stadtentwicklung, Wirtschaftsgeschichte und aktuellen Diskussionen und wolle mehr als die touristische Oberfläche zeigen.
Besonders angesagt seien bei Studenten gerade die Viertel rund um die Universität. Das erzählt Marx, die häufig auf dem Campus Etterbeek der Vrijen Universiteit Brüssel ist, um an ihrer Dissertation zu schreiben. Gerade in Etterbeek finde man als junger Mensch viele Plätze, um sich auszuprobieren. „Ich vergleich das immer so ein bisschen mit Friedrichshain oder Prenzlauer Berg in Berlin.“
(Der Artikel wurde am 20.4.2022 verändert.)