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Mit Fleisch und Blut: Körpereinsatz bis zur Selbstzerstörung

Von Christina Braun / 12. Februar 2020
picture alliance/dpa/MAXPPP | Julien Mattia / Le Pictorium

Feministinnen, die in Oben-Ohne-Aktionen demonstrieren. Aktionskünstler, die sich den Mund zunähen. Umweltaktivisten, die sich auf die Gleise legen. Politischer Aktivismus setzt den Körper als Zielscheibe, Schutzschild oder medienwirksame Plakatwand ein. Was aber, wenn die Politisierung des Körpers in eine Selbstzerstörung mündet?

Mehr als sechs Stunden lang stellte sich der türkische Choreograf Erdem Gündüz während der Proteste in der Türkei im Jahr 2013 auf den Taksim-Platz in Istanbul und starrte auf das Porträt des Staatsgründers der modernen türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk. Mit seinem „stehenden Widerstand“ wurde er als „Standing Man“ weltberühmt.

Den eigenen Körper in den Weg stellen oder setzen – auf diese Weise haben bereits die Vertreterinnen und Vertreter der 68er-Bewegung gegen den Vietnamkrieg demonstriert. In Protesten gegen die Kernkraft ketten sich Umweltaktivistinnen und -aktivisten noch heute an Gleise, um Atommülltransporte zu stoppen. Als Refugium der Selbstbestimmung wird der Körper dabei zum wirkmächtigen Protestmedium und zur medienwirksamen Waffe, weil an ihm unsere individuelle Existenz hängt, die im politischen Protest um den Preis der Selbstzerstörung eingesetzt werden kann.

Die Entblößung des weiblichen Körpers gegen das Patriachat

Die im Jahr 2008 in der Ukraine gegründete feministische Organisation Femen setzt auf weibliche Nacktheit, um Gehör für ihre politischen Botschaften zu finden. Mit entblößten Oberkörpern, auf denen ihre politischen Forderungen aufgemalt sind, stürmen die Aktivistinnen regelmäßig öffentliche Veranstaltungen, um gegen Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt zu kämpfen. „Sextremismus“ nennen sie selbst ihren Protest, denn ihre selbstbestimmte Nacktheit verschafft Femen eine maximale mediale Aufmerksamkeit. So sprang Alexandra Shevchenko im Jahr 2013 mit nacktem Oberkörper vor den russischen Präsidenten Wladimir Putin – und zahlreiche Kameras –, um dessen Politik zu kritisieren. „Den Körper als Waffe einzusetzen, ohne dass ein Mann das kontrollieren kann, ist effektiv, weil es jeden irritiert“, erklärte die Aktivistin nach der Aktion in einem Interview. Auch auf sogenannten „Slutwalks“ zeigen sich Frauen bewusst freizügig, um gegen sexuelle Gewalt und für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu demonstrieren. Anlass für die globalen Protestmärsche war die Äußerung eines kanadischen Polizeibeamten im Jahr 2011, der Frauen aufforderte, sich nicht wie „Schlampen“ anzuziehen, um nicht zu Opfern von Gewaltverbrechen zu werden.

Der Körper als Projektionsfläche politischer Kunst

In der Performancekunst setzen Künstlerinnen und Künstler ihren Körper als Projektionsfläche ein, um ihren (politischen) Anliegen Ausdruck zu verleihen. Der Aktionskünstler Wolfgang Flatz versteht seinen Körper als Kunstobjekt, den er seit den siebziger Jahren in sogenannten „autoaggressiven Performances“ immer wieder Gewalt und Schmerz aussetzt. So forderte der gebürtige Österreicher im Jahr 1975 seine Zuschauerinnen und Zuschauer auf, ihn für ein Preisgeld von 500 Mark mit Dartpfeilen zu bewerfen. 16 Jahre später ließ er sich in der Synagoge von Tiflis kopfüber zwischen zwei Stahlplatten als „menschlicher Glockenklöppel“ bis zur Bewusstlosigkeit hin- und herschwingen. Während Flatz‘ kompromissloser Körpereinsatz seinen Aktionen ihre Eindrücklichkeit verleiht, nutzt der russische Konzeptkünstler Pjotr Pawlenski seinen Körper als politische Waffe gegen den Staat: So nähte er sich in Reaktion auf das Gerichtsverfahren gegen die Frauenband Pussy Riot den Mund zu. Ein Jahr später setzte er sich nackt auf den Roten Platz in Moskau und nagelte seinen Hodensack am Boden fest. Mit seinen symbolischen Aktionen will er das russische System bloßstellen und für Freiheit kämpfen – auch wenn sein eigener Körper dabei Schmerzen ertragen muss.

Hungern gegen das System

Der Hungerstreik ist seit jeher eine Form aktiven Protests, um gesellschaftliche Missstände anzuprangern. Die Geste vorwurfsvollen Erduldens unter Einsatz der eigenen Existenz verleiht dem Hungerstreik eine hohe mediale Aufmerksamkeit, nicht zuletzt weil der Staat seine juristisch festgeschriebene Schutzpflicht (das Recht auf körperliche Unversehrtheit) eigentlich nur einhalten kann, wenn er der damit verbundenen Forderung nachkommt. Denn gegen ihren Willen dürfen Streikende in Deutschland nicht zwangsernährt werden. Vor allem die Hungerstreiks der linksextremen, terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF), durch die Holger Meins im Jahr 1974 während der Haft sein Leben verlor, erzeugten landesweite Aufmerksamkeit. Im Laufe der Geschichte wurde der Hungerstreik weltweit immer wieder als individuelles oder kollektives Protestmittel von Menschen in Gefangenschaft eingesetzt: So hungerten die Gefangenen in Guantánamo 2013 ein halbes Jahr lang, um gegen ihre Inhaftierung zu protestieren. Aber auch außerhalb der Gefängnisse verweigern Menschen nach dem Vorbild Mahatma Gandhis immer wieder die Nahrungsaufnahme zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Im letzten Jahr hungerte der 19-jährige Däne Mikkel Brix öffentlichkeitswirksam, um die Politiker seines Landes zum Handeln in der Klimakrise zu drängen.

Die totale Auslöschung des Körpers als letztes Mittel

Soll mit dem Hungerstreik durch die bloße Androhung des Todes eine Reaktion der Autoritäten erzwungen werden, so zielt die Selbstverbrennung als radikalste Form des Protests auf die tatsächliche, die eigene, absolute Auslöschung. Die Selbstverbrennung des Tunesiers Mohamed Bouazizi im Jahr 2010, mit der er gegen das autoritäre Regime seines Landes prostierte, gilt als Auslöser für die revolutionäre Bewegung des Arabischen Frühlings. Diese Form der politisch motivierten Vernichtung des eigenen Körpers hat auch zehn Jahre später noch immer eine hohe öffentliche Resonanz zur Folge. Im vergangenen Jahr steckte sich ein 22-jähriger Student in Lyon aus Verzweiflung über seine schwierige soziale Lage in Brand, um auf die unterschätzten prekären Lebensverhältnisse von Studierenden in Frankreich aufmerksam zu machen. Als Reaktion fanden massive studentische Proteste in mehreren französischen Universitätsstädten statt, die den Studenten zum Märtyrer erklärten.

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