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DebatteCancel Culture: Schnee von gestern?

Von Sebastian Fobbe / 28. Juli 2022
picture alliance / PantherMedia | Niall Wiggan

Gesellschaften reagieren empfindlich auf Witze und Aussagen, die einigen Leuten unglücklich erscheinen, anderen sogar geschmacklos daherkommen. Am Rande des Sagbaren sehen sich nicht wenige, auch wenn nicht unbedingt von Sprechverboten die Rede ist.

Mittwoch, 29. Juni 2022, 15.10 Uhr. Die New York Post veröffentlicht eine Meldung, die wenig später zur Weltnachricht wird. „Er ist jetzt ein eingesperrter Vogel“, lautet der erste Satz dieser Nachricht. Und der Vogel, um den es in dem Artikel geht, ist R. Kelly. Sänger, Songschreiber, Musikproduzent, vielfach prämiert, eine Größe in der Welt des R’n’B und Hip-Hop. Und seit Kurzem ein verurteilter Sexualstraftäter.

Seit 2019 sitzt R. Kelly in Untersuchungshaft, weil er wegen mehrfachen und systematischen sexuellen Missbrauchs angeklagt wurde. Nun entschied eine Jury an einem New Yorker Gericht, dass der US-amerikanische Musiker für 30 Jahre hinter Gitter muss.

Für einige ist R. Kelly damit nicht nur als Mensch, sondern auch als Musiker diskreditiert. Sie fordern den Boykott seiner Musik. Einem Sexualstraftäter eine Bühne zu geben, indem man seine Musik spielt, als sei nichts gewesen, finden sie falsch. Lady Gaga hat angekündigt, dass sie ihr Duett mit R. Kelly von allen Streamingdiensten entfernen lassen will.

Andere Beobachter:innen hingegen finden das übertrieben. Sie sind der Meinung, man müsse in der Kunst Urheber:innen und Werk strikt voneinander trennen. Es gehe schließlich nicht darum, ob R. Kelly ein guter oder schlechter Mensch ist, sondern um seine Musik. Und der Erfolg steht außer Frage: Allein für seine Ballade „I Believe I Can Fly“ gewann R. Kelly drei Grammys.

Im Kern geht es beim Fall von R. Kelly um eine Grundsatzfrage: Handelt es sich dabei nicht um einen Fall von Cancel Culture?

Was Cancel Culture bedeutet

Schauen wir nach Deutschland. Im April 2021 hat die AfD-Bundestagsfraktion dem Bundesjustizministerium die Gretchenfrage nach dessen Kenntnis und Verständnis der Cancel Culture gestellt. Und auch: „ (…) ob die Bundesregierung eine Gesetzesinitiative plant, um die freie Debattenkultur in der Kunst, in der Politik und in der Wissenschaft in Deutschland auch zukünftig zu erhalten.“ In der Antwort auf die „Kleine Anfrage“ schreibt das Ministerium, es wolle sich den Begriff Cancel Culture nicht zu eigen machen. Das Schlagwort sei nicht eindeutig definiert und darüber hinaus auch umstritten.

Die AfD sieht das anders. Für sie verkörpere der Begriff „die Schmähung eines Teilnehmers einer Diskussion, einer Lesung, einer Feier mit dem Ziel seiner Ausgrenzung und Verächtlichmachung“. Wer „höchst Problematisches“ sage oder tue, werde ausgegrenzt und gemieden. Kunstschaffende oder Wissenschaftler:innen seien von Cancel Culture betroffen. Verträten sie die vermeintlich falsche Position, würden sie von Debatten ausgeschlossen, zu Diskussionen nicht eingeladen oder ihnen werde der Zugang zu Veranstaltungen versperrt.

Gründe für derlei „Ausgrenzung und Verächtlichmachung“ sieht die AfD in vermeintlichem Rassismus, Sexismus und Mobbing. Nicht nur, wer absichtlich, sondern auch wer unabsichtlich andere Menschen verletze, werde zum Opfer der Cancel Culture. Wie zum Beispiel, heißt es, Lisa Eckhart. Die österreichische Kabarettistin ist von den Organisator:innen eines Literaturfestivals ausgeladen worden, nachdem sie sich auf der Bühne über Minderheiten lustig gemacht hat. Für die AfD ein klarer Fall von Cancel Culture. Und die mache nicht nur keinen Halt vor Personen des öffentlichen Lebens wie Lisa Eckhart. Für die Partei zählt auch eine Fertigsoße, die wegen einer rassistischen Bezeichnung auf dem Etikett umbenannt wurde, zu den Kollateralschäden allzu politisch korrekten Auftretens.

Eine Fata Morgana?

Damit ist für die AfD der Gipfel der einzuschränkenden Meinungsfreiheit erreicht. Durch die ständige Gefahr, für unpopuläre Positionen sanktioniert zu werden, fühlten sich manche Menschen in ihrer Rede- und Denkfreiheit beeinträchtigt. Debatten- und Meinungskorridore in Politik und Wissenschaft würden immer enger, fürchten sie. Stimmt das?

2019 hat das Allensbach-Institut eine Studie über die Grenzen der Meinungsfreiheit gemacht. 63 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, man müsse heutzutage aufpassen, welche Meinung man vertritt. Es gebe ungeschriebene Gesetze, die festlegten, welche Ansichten akzeptabel seien. Der Studie zufolge sind besonders heikle Gesprächsthemen unter anderem Geflüchtete (71 Prozent), der Islam (66 Prozent), Jüd:innen (63 Prozent) und die Nazizeit (58 Prozent). Das Fazit der Studie: „Viele Bürger“ vermissten „offenkundig Respekt“ und wünschten sich, dass ihre „Sorgen und Positionen ernst genommen“ würden, ohne dass ein „erzieherischer Furor“ über sie hereinbreche.

Offenbar halten einige Menschen ihre Ansichten tatsächlich bewusst unter Verschluss. Man könnte aber auch sagen: Die Angst vor negativem Feedback ist groß. In einer Ausgabe der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte vom November 2021 weist eine Gruppe von Soziolog:innen darauf hin, dass die Grenzen zwischen Kritik, Angriff, Beleidigung und Debatte fließend seien. Was lediglich als Kritik oder Widerspruch gemeint sei, könne schnell als persönliche Attacke ausgelegt werden.

Und die Sozialforschenden erinnern daran, dass man zwischen Positionen und Personen trennen müsse. Wenn beispielsweise Lisa Eckhart auf einem Literaturfestival nicht auftreten dürfe, bedeute das nicht, dass man sich nicht mit ihrem Humor und ihrer Meinung auseinandersetzen will. Es bedeute nur, dass man diese Auseinandersetzung nicht in einem bestimmten Kontext stattfinden lassen will.



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