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ProWer, wenn nicht die Wissenschaft?

Von Yves Bellinghausen / 31. August 2018
picture alliance / dieKLEINERT | Ivonne Schulze

Viele Menschen fürchten den rasanten technischen Fortschritt. Dabei definiert er uns als Menschen und ist in einer aufgeklärten Welt das letzte Konzept, von dem wir uns Erlösung erhoffen können.

Kürzlich, auf dem 80. Geburtstag meiner Großmutter. Wir saßen im Garten, als drei ältere Frauen begannen, über „die moderne Welt“ herzuziehen. Nichts sei mehr so wie früher und niemand könne mehr etwas mit Handarbeit anfangen, klagten sie. Gentechnik, Smartphones, das Internet ganz allgemein: Wir würden immer unnatürlicher leben, waren sie sich sicher.

Aber was ist denn unsere Natur? Ich glaube, technischer Fortschritt gehört zu unserem Dasein, wie die Liebe und der Hass.

Ohne Entwicklung wären wir selbst wahrscheinlich etwas in der Art eines Pantoffeltierchens geblieben, das ziellos durch die Ursuppe treibt. Möglicherweise sind Pantoffeltierchen sehr glückliche Einzeller, aber ich persönlich bin doch ausgesprochen froh darüber, Mensch zu sein. Evolution sei Dank! Über Jahrmilliarden wurde auf dem Weg von ‚trial-and-error‘ ausprobiert, welche Lösungen sich für die Probleme der Umwelt eignen, Passendes und Erfolgreiches wurde weiterentwickelt, Unpassendes und Scheiterndes verworfen. Eigentlich die ideale Forschung im Popperschen Sinne. Man könnte sagen: Forschung ist gewissermaßen die Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln. Die Grenzen des Möglichen weiter auszudehnen – das liegt ganz essentiell in unserer menschlichen Natur. Unnatürlich wäre es umgekehrt, auf dem gegenwärtigen Stand der Technologie zu verharren.

Fortschritt von gestern

Ich glaube, der Technikskeptizismus, den die drei älteren Damen geäußert haben, ist Ausdruck des klassischen Dilemmas, in dem sich der Mensch als “homo faber” befindet: Auf der einen Seite liegt auf Neugier begründeter Fortschritt in unserer Natur, auf der anderen Seite fürchten wir das Fremde und das Neue. Als die ersten Züge schneller als 100 Stundenkilometer fuhren, da hatten die Menschen Angst vor den hohen Geschwindigkeiten. Heute beschweren wir uns, wenn der ICE sich mit 160 Stundenkilometern über veraltete Bahntrassen quält. Die Normalität von heute ist der Fortschritt von gestern.

Psychatrieprofessor Manfred Spitzer stört sich dennoch an der angeblichen Smartphonesucht einer ganzen Generation. In seinen Büchern „Cyberkrank!“ und „Digitale Demenz“ warnt er kulturpessimistisch, der ausgiebige Gebrauch von Computer und Smartphone lasse die Menschen verdummen und Soziale Medien würden Depressionen verursachen. Viele Eltern glauben den populärwissenschaftlichen Auftreten des Hochschullehrers und sehen es nicht gerne, wenn ihre Kinder stundenlang im Internet sind. 37 Prozent der deutschen Eltern halten dagegen „Freude an Büchern“ für ein besonders wichtiges Erziehungsziel. Eigentlich witzig, denn im späten 18. Jahrhundert zeigte man sich besorgt, die Jugend wäre von einer Lesesucht besessen. Der Aufklärer Joachim Heinrich Campe notierte 1809 in seinem Wörterbuch: „Lesesucht, die Sucht, d. h. die unmäßige, ungeregelte und auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen.“ Wie die Menschen in 250 Jahren wohl auf Manfred Spitzers Befürchtungen zurückblicken werden?

Forschung weist den Weg

Zugegeben, es gibt manche Erfindungen, die besser im Verborgenen geblieben wären, allen voran die Atombombe. Und auch die laufende Zerstörung unseres Planeten bewerkstelligen wir in diesem atemberaubenden Tempo nur mithilfe moderner Technik. Aber das sollte uns nicht zu dem logischen Kurzschluss verleiten, der technische Fortschritt an sich sei grundsätzlich schädlicher Natur. Oder das irgendwann ein Ende erreicht werden müsse.

Es ist doch der Mensch, der die Verirrungen der Moderne zu verantworten hat. Zerstörung ist doch nicht die Essenz von Fortschritt, das wäre geradezu absurd! Im Gegenteil sollte uns die Gefahr eines Atomkrieges dazu anspornen, mehr in die Friedensforschung zu investieren und die globale Erwärmung stoppen wir realistisch auch nicht, indem wir unseren Lebensstandard auf das Niveau des 18. Jahrhunderts absenken, sondern indem wir moderne Forschung betreiben für beispielsweise klimafreundliche Energieformen. Wovon können wir denn in diesem gottlosen Zeitalter Erlösung erwarten, wenn nicht von der Wissenschaft?



Eine Antwort zu “Wer, wenn nicht die Wissenschaft?”

  1. Von Hans Gnadenberger am 10. Januar 2023

    Hi,
    lese gerade in Friedrichs Heer „Europa – Die Mutter aller Revolutionen“ u.a. diesen Satz, den er dort von Nikolai Fedorov (1828-1903) zitiert (in seiner Abhandlung über Entstehung und Hintergrund der Russischen Revolution): „Ehedem war die Wissenschaft die Magd der Theologie, jetzt ist sie die Magd des Kommerzes“ (der Spruch dürfte ca. 1890 als „Geburtsdatum“ haben….)

    Man kann es als Weitblick betrachten, der hier Licht auf heutige Zustände wirft, die noch wesentlich weiter eskaliert sind in diese angedeutete Richtung…..

    Das bedeutet u.a., daß in Deinem obigen Artikel die Frage der Machtverhältnisse, in die die jeweilige Wissenschaft eingespannt ist, nicht Erwähnung findet……

    Die Bildung von Ethik, Moral, verantwortungsvollem Umgang mit machtvollen Mitteln wird umso wichtiger, je mächtiger diese Mittel werden, je mehr Eingriffe sie einem schwächlichen Menschen in von der Evolution vorgegebene „Entwicklungen/Entwürfe“ erlauben…….

    …..Wer besitzt die Deutungsmacht, wer verwertet Erfindungen/Patente, die in den meisten Fällen mit Steuergeldern entstanden sind durch Wissenschaft und Forschung?…..

    …..dann noch ein Punkt: Die Wissenschaft hat, solange die Vorstellung/das Gedankenkonzept in einem Menschen existiert, daß wir uns entwickeln, daß es einen „Fortschritt“ gibt, denselben Stellenwert, wie im Mittelalter in Europa damals Gott. Auf die Wissenschaft diese Wunschvorstellung zu projizieren, wie sie in der Kirche von vielen Vertretern auf Gott projiziert wurde macht grundsätzlich keinen Unterschied.

    Es ist auch für jeden, der genau hinschaut klar sichtbar: Jede Wissenschaft macht nichts anderes, als Objekte der vorhandenen Welt zu erforschen/zerlegen uws…… d.h. daß ohne diese Gegenstände, Wissenschaft nicht möglich wäre, denn sie kann nicht „Nichts“ erforschen. Die meisten Forschenden begehen dann den folgenschweren Irrtum, das Teilwissen, das sie herausgefunden zu haben überzubewerten. Sie schätzen dasjenige, was sie an Wenigem herausgefunden haben, als höher ein als das Objekt ihrer Untersuchung: Dies umreißt kurz die Mangelsituation an einen für unsere moderne Zeit fehlenden Entwurf einer passenden Spiritualität – Denn da Du ja diese Frage im letzten Satz ansprichst, dieser Hinweis……

    gutes Gelingen beim Forschen für das Wohl aller fühlenden Wesen und darüber hinaus der Mutter Erde usw…..

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