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ContraGegen Rassismus und für mehr Desintegration in Deutschland

Von Semra Kizilkaya / 1. Oktober 2018
picture alliance / Frank May | Frank May

Führt Desintegration zu Rassismus? Im post-nationalistischen Deutschland bergen Rufe um Leitkultur, Integration und Abendland den Wunsch nach einer ethnisch, religiös und kulturell homogenen Gesellschaft. Der Ausbruch kann nur durch Desintegration gelingen.

Manchmal müssen die Dinge so hässlich benannt werden, wie sie sind. Herkunft und Zugehörigkeit werden für einen großen Teil der Menschen in Deutschland noch immer über Blut definiert. Deutsch ist, wer deutsche Vorfahren hat. Für Zugewanderte, in deren Adern kein “deutsches Blut“ fließt, gilt also: Obwohl einerseits zu ewigen “Migranten“ verbannt, werden andererseits die Forderungen nach Integration immer lauter. Als wären sich alle einig, dass Integration die Zauberformel für ein reiches, friedliches, gutes Deutschland ist. Besonders betroffen von der Diskrepanz zwischen Exklusion und Integrationsaufforderung sind Muslime. Fragwürdig ist jedoch, dass die Forderungen nie nachlassen. Auch in der dritten Generation ist man nicht deutsch genug. Es beunruhigt mich, dass hinter all den laut ausgesprochenen Appellen nach Integration nicht gesehen wird, was unausgesprochen bleibt: Die Utopie einer homogenen Gesellschaft und der Hass auf die “Anderen“.

Argument 1: Weil Integration eine Lüge ist

Dort, wo Integrationsdebatten über gesellschaftliche Partizipation – etwa durch sprachliche Teilhabe – hinausgehen, offenbaren sie einen fest verankerten Kulturrassismus. Wir Neudeutschen können dabei in bester Nachbarschaft leben, uns für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, wir können für die deutsche Nationalelf spielen, das ändert jedoch nichts daran, dass unsere Zugehörigkeit dauernd auf der Kippe steht, kontinuierlich verhandelt wird. Es braucht nur einen Täter und sofort wird die individuelle Schuld auf die gesamte Gruppe projiziert. Plötzlich gehören wir nicht mehr zu Deutschland oder werden von Wutbürgern gejagt. Desintegration bricht den Gedanken auf, dass es irgendwo ein homogenes Deutschsein gibt, welches man sich durch Integration zu Eigen machen könne. Was den Rassismus angeht, ist dieser nicht das Problem der Angefeindeten, sondern derjenigen, die ihn als Ideologie vertreten oder stützen. Und die sind gerade am Erstarken: Die AfD hat in Umfragen die SPD überholt. Integration allein hilft also nicht wider den Hass.

Argument 2: Weil Vielfalt Realität ist

Ich aber will mein Leben nicht im Angesicht von Hass leben. Wenn Deutschland uns hasst, dann hasst Deutschland sich selbst. Wir sind längst ein Teil dieses Landes. Ich will in einer Gesellschaft leben, in der ich meine vielschichtige Identität bewahren kann. In der ich frei meine beiden Muttersprachen sprechen kann, ohne mich für eine der beiden zu schämen. Eine Gesellschaft, die sich im Sinne Hannah Arendts einsetzt für Pluralität als Grundlage jedes menschlichen Daseins und politischen Handelns. Was die Gegner von Vielfalt nicht erkannt haben, ist: Es gibt keine Alternative, Vielfalt existiert bereits. Im Kleinen wie im Großen. Wir Menschen sind aus vielen Facetten gemacht – es gibt keine Identität, die nicht hybrid ist, nicht Widersprüche vereint oder Ambiguitäten aushält. Und bis auf ein dunkles Zeitalter der deutschen Geschichte war die deutsche Gesellschaft noch nie eine monokulturelle.

Argument 3: Weil wir uns erinnern müssen

Der Nationalsozialistische Untergrund, brennende Flüchtlingsheime, rechtsnationale Parteien im Bundestag. Sie alle zeigen schmerzlich, dass die düstere Vergangenheit nachwirkt. Dabei war es nicht etwa fehlende Integration, die im Zweiten Weltkrieg eine an Ausmaß und Grausamkeit historisch unvergleichliche Katastrophe hervorbrachte. Es waren völkische Narrative.

Desintegration und Erinnerungskultur müssen deshalb zusammengedacht werden. Wie kann ein gemeinsames Erinnern in Deutschland aussehen? Hier muss ich an ein Beispiel jüdischer Form denken, das in der Streitschrift „Desintegriert euch!“ gegeben wird. Die jüdische Künstlerin Jane Korman tanzt mit ihrem Vater im Video Dancing Auschwitz vor verschiedenen Konzentrationslagern zu „I Will Survive“ von Gloria Gaynor. Dazu schreibt die Medienwissenschaftlerin Lea Wohl 2012:

„Durch die Musik, mit der die Bilder unterlegt sind, wird die Dimension eines Kampfes gegen Unterdrücker und vor allem der Sieg über und die Behauptung gegen nationalsozialistische Werte deutlich: Während ein jüdischer Holocaustüberlebender vor den Krematorien in Auschwitz tanzt, singt eine schwarze Sängerin ein Lied, welches zum Symbol der Schwulenbewegung wurde“.

Deutschland darf nicht wieder hassen. Dafür sollten wir alle, die eine freiheitlich-liberale Demokratie verteidigen, gemeinsam stehen und gemeinsam erinnern. In dem wir unsere Vergangenheit als Mahnung begreifen und Vielfalt und Unterschiedlichkeit feiern.

Argument 4: Weil wir frei sind

Es lebe die Freiheit!“, hat Hans Scholl ausgerufen an dem Tag, an dem er hingerichtet wurde. Am 22. September 2018 wäre er 100 Jahre alt geworden. In einer Demokratie, in der unterschiedliche Lebensentwürfe die gleiche Wertschätzung erfahren, ist Desintegration Freiheit. Es lebe die Freiheit!



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